Abo

Rechtsstaat geriet ins WankenWie die Kölner Silvesternacht 2015/16 Deutschland verändert hat

4 min
ARCHIV - 30.12.2015, Nordrhein-Westfalen, Köln: Zahlreiche Menschen sind am 31.12.2015 in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs zu sehen. In der Silvesternacht wurden am Kölner Hauptbahnhof Frauen sexuell belästigt und ausgeraubt.  (zu dpa: «Mir hilft hier keiner - Zehn Jahre Kölner Silvesternacht») Foto: Markus Boehm/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

In der Silvesternacht 2015/2016 wurden am Kölner Hauptbahnhof hunderte Frauen sexuell belästigt und ausgeraubt.

Sicherheit, Migration, Medien: Die Kölner Silvesternacht 2015/2016 hat Deutschland auf vielen Ebenen verändert. Auf massenhafte sexuelle Übergriffe vor dem Hauptbahnhof folgte ein Jahrzehnt der Debatten, die teils bis heute andauern.

Der Anruf bei der Polizei am 31. Dezember 2015 um 20.48 Uhr kann mit heutigem Wissen als erster Hinweis gedeutet werden, als Fingerzeig für das, was in den Tagen danach von Köln ausgehend das ganze Land verändern wird. Genau vier Monate, nachdem die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem Appell „Wir schaffen das“ einer Willkommenskultur für Geflüchtete den Weg bereiten wollte und hunderte Menschen aus Syrien und anderen Krisenländern am Hauptbahnhof in München mit Jubel und Stofftieren empfangen wurden, dreht sich nun die Stimmung abrupt.

Es entbrennt eine hochemotionale Debatte über Migration und Kriminalität, über Polizeiarbeit, Medienberichterstattung und gesellschaftlichen Zusammenhalt – und die Kölner Silvesternacht wird zum Symbol für die Herausforderungen, vor denen moderne Großstädte stehen: bei der Integration von Flüchtlingen, bei der Planung von Massenevents und im Umgang mit sexueller Gewalt. Aber um 20.48 Uhr an jenem Silvesterabend am Kölner Dom ahnt das noch niemand, am wenigsten wohl der Anrufer selbst.

Köln: 1210 Strafanzeigen wurden nach der Silvesternacht erstattet

Polizist: „Polizeinotruf.“

H.: „Guten Tag, H. mein Name. Ich rufe gerade direkt vom Kölner Hauptbahnhof an, denn es gibt hier drei Jungs, die gerade hier mit Böllern gegen andere Leute werfen. Sieht wie so nach dem Krieg aus, aber halt mit Böllern.“

Polizist: „Ja.“

H.: „Könnte da mal jemand kommen?“

Polizist: „Ja, wissen wir Bescheid. Kümmern wir uns drum.“

Anrufer: „Okay. Danke.“

Polizist: „Ja. Tschüss.“

In den folgenden Stunden wird der Bereich im und um den Hauptbahnhof zeitweise zum rechtsfreien Raum, wie es später vielfach heißen wird. Denn es bleibt nicht bei Böllerwürfen. Hunderte, oft alkoholisierte junge Männer nutzen das Gedränge und die Dunkelheit, um zu pöbeln und andere zu bedrängen, sie zu bestehlen und sexuell zu belästigen. Auch fünf Vergewaltigungen und 16 versuchte Vergewaltigungen werden später bei der Polizei angezeigt. Opfer sind vor allem Frauen. Täter werden nur wenige gefasst und noch weniger überführt, Zeugen und Geschädigte beschrieben sie zumeist als „Flüchtlinge“ arabischen oder nordafrikanischen Aussehens.

Köln: 290 Tatverdächtige hat die Polizei ermittelt

Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im NRW-Landtag hat die Kölner Silvesternacht monatelang minuziös und mit hoher Akribie aufgearbeitet. Die Ausschussmitglieder haben 59 öffentliche Sitzungen absolviert, 178 Zeugen vernommen, zehntausende Seiten Aktenmaterial durchforstet, stundenlang Videomaterial gesichtet und ihre Erkenntnisse schließlich auf 1352 Seiten in einem Abschlussbericht zusammengefasst. Ihr Kernbefund: Stadt, Polizei und Bundespolizei haben in der Silvesternacht gravierend versagt.

In deutlichen Worten heißt es im Bericht, in jener Nacht „wäre ein möglichst rasches und vor allem frühzeitiges Eingreifen der Polizei und sonstiger Schutz- und Ordnungskräfte erforderlich gewesen“. Auch habe es Kommunikationsmängel gegeben. Das Ausmaß der Straftaten hätte durch ein entschlossenes Eingreifen der Sicherheitsbehörden und die konsequente Verfolgung erster Straftaten sowie frühzeitige Sperrungen „verhindert werden können“.

Köln: 46 Beschuldigte wurden angeklagt, 36 verurteilt – 3 wegen Sexualdelikten

In einem Rechtsgutachten für den Landtag NRW geht der Kriminalpsychologe Rudolf Egg nach eigener Einschätzung nicht davon aus, dass sich am Silvesterabend 2015 in Köln Hunderte von gewaltbereiten und rücksichtslosen Kriminellen vorsätzlich und organisiert versammelt hätten, um Frauen sexuell zu demütigen und Männer wie Frauen zu bestehlen. Egg ist vielmehr überzeugt davon, dass im Schutze der Dunkelheit und der großen Menschenmasse sukzessive ein Zustand der Normlosigkeit entstanden war. Ausgehend von einer kleinen Gruppe zielbewusster Täter hätten sich mehr und mehr Personen ebenfalls an Straftaten beteiligt – auch oder gerade weil Polizei und Bundespolizei offensichtlich mit der Situation überfordert waren.

Auch Saskia M. (Name geändert), damals 22 Jahre alt, wurde von fremden Männern bedrängt und sexuell belästigt. Am Neujahrstag 2016 schickte sie dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ eine lange, eindrückliche E-Mail, darin beschrieb sie ihre verzweifelte Lage im völlig überfüllten Hauptbahnhof nach Mitternacht und die Täter, denen sie ausgeliefert war: „Die Blicke gierig, manche Männer lehnen sich an, können nicht mehr stehen, offensichtlich zu viel Alkohol. Es riecht nach Schweiß, unverständliches Stimmengewirr, laute Rufe. Eine Hand unter meinem Rock wandert zwischen meine Beine, ich fahre den Ellenbogen aus. Um mich herum zu viele Menschen, ich kann die Hand nicht zuordnen. Gleiches passiert noch drei, vier Mal. Ich kann nicht weg. Wieder geiernde Blicke, widerliches Grinsen.“

Zehn Jahre später hat Saskia M. die Erlebnisse und Folgen dieser Nacht nicht vergessen. Sie träume zwar nicht schlecht und habe auch keine Angst, sich draußen alleine zu bewegen, sagt sie im Gespräch. „Es hat keine Auswirkungen auf meine Lebensführung.“ Aber: In ihrem Innern keimen unwillkürlich immer wieder Vorbehalte gegenüber Männern arabischer oder nordafrikanischer Herkunft auf, sagt sie. Dagegen kämpfe sie bis heute an. „Es ist einfach schwierig, die Emotionen wegzuschieben.“

M. ist einer von sechs Menschen, die eng mit der Silvesternacht 2015/2016 verbunden sind, wenn auch alle in völlig unterschiedlicher Art und Weise. Für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ erinnern sie sich an die Geschehnisse vor zehn Jahren – und formulieren ihre zentralen Lehren aus einer Nacht, die Deutschland verändert hat.


Zehn Jahre nach der Kölner Silvesternacht 2015/2016, in der hunderte Menschen, vor allem Frauen, vor dem Hauptbahnhof beraubt und sexuell belästigt wurden, hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit unterschiedlichen Menschen über die Nacht und ihre Folgen gesprochen.