Lesung auf der lit.CologneWarum Alexander Kluge plötzlich weinen muss

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Alexander Kluge auf der lit.Cologne 

Köln – Alexander Kluge weint. Eine einzelne Träne hält sich hartnäckig an seinem rechten Auge fest, noch nicht ganz bereit, über seine Wange zu rinnen. Kluge weint, weil er gerade die Wappentiere der Aufklärung beschrieben hat. Zum Beispiel die Fledermaus, die Walter Benjamin sehr verehrte, weil sie sich am Echo der von ihnen ausgesandten Ultraschallwellen orientieren: Ein dialogisches Tier.

Oder der Maulwurf, laut Karl Marx der animalische  Vorarbeiter der Revolution: Im Dunklen untergräbt er die Verhältnisse und taucht er dann unverhofft an der Oberfläche auf, „wird Europa von seinem Sitze aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!“, heißt es in „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“.

„Diese Tiere berühren mich“, sagt Alexander Kluge feuchten Auges und beschließt den von ihm gestalteten und von Svenja Flaßpöhler klug und einfühlsam moderierten lit.Cologne-Abend im Depot 1 mit dem „Lamento auf den Tod eines Maulwurfs“, einem kurzen Film, der den Verwesungsprozess  eines solchen Agenten des Wandels einfängt.

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Tränen bringen die Dinge in Bewegung

Lange verweilt die Kamera auf seinen kleinen Grabschaufeln, die behaart und verhornt wirklich ein wenig an die Hände alter Arbeiter erinnern. Man möchte mitweinen und das ist gut so. Weinen, sagt Kluge, verflüssigt die Dinge, bringt die erstarrte Verhältnisse in Bewegung.

Der Abend hatte mit einem anderen Säuger begonnen: Der titelgebenden Leseratte, als die sich der Autor und Filmemacher selbst identifizierte und die Helge Schneider, einer seiner Lieblingsprotagonisten, im Einspieler unter einer entsprechenden Maske darstellte: „Hm, Spanisch!“, schwärmt die Helge-Ratte, als sie eine herausgerissene Buchseite zerkaut.

Ein paar Löwen hätten uns ausrotten können 

Das größte Lob aber hält der 90-jährige Kluge für den Menschen bereit: Ein ungemein elastisches Tier sei der, ausgestattet mit einem Zwerchfell, dass sich dehnen und zusammenziehen kann, um Tyrannen auszulachen. Zäh sei er, der Mensch, und eigensinnig: „Wir waren einmal 18 000 Leute in Afrika, ein paar Löwen hätten uns ausrotten können.“ Dass der Mensch dieses Nadelöhr und unzählige andere Katastrophe, die Natur und Geschichte für ihn bereit hielt, überlebt hat,  gibt Kluge die Gewissheit: „In uns muss etwas sein, das klüger ist als unser Kopf.“

Am Anfang von Kluges ausufernden Werk als Literat, Theoretiker, Film- und Fernsehmacher steht eine solche „Änderung in der Physik“, der Luftangriff der Eighth Air Force der Amerikaner auf seinen Geburtsort Halberstadt, den er als 13-Jähriger miterlebte und der sein kindliches Urvertrauen erschütterte. Mit seiner Schwester an der Hand sei er aus dem brennenden Stadtzentrum zur Badeanstalt geflüchtet, in der irrigen Annahme, die kleine Wasserbarriere böte Schutz. Doch: „Selbst ein Irrtum ist besser als Verzweiflung.“ Schon am nächsten Tag hätte er einen Teil des Freud’schen Urvertrauens – der irrigen Überzeugung, dass  die Welt es gut mit einem meine – zurückerlangt. 

Was man dem Ukrainekrieg entgegensetzen muss

Diese Beharrlichkeit setzt Kluge auch der aktuellen Katastrophe des Ukrainekriegs entgegen, der diesen Abend so bestimmte, wie er gerade alles bestimmt. „Der Krieg hat keine Vorgesetzten“, sagt Kluge, „wer ihn entfesselt kann ihn nicht beherrschen.“ Und das mache es so schwierig ihn zu beenden. Ein „schwatzhafter Dämon“ sei der Krieg, er entstehe aus Buchstaben, im Abstrakten der höchsten politischen Ebene, dort, wo Verträge entstehen.  Wie der Erste Weltkrieg, ein „Krieg ohne jeden Grund“, der mit einer weltpolitischen Nebensache begonnen hatte.

Scheinbar willkürlich springt Kluge durch die Weltgeschichte. Der Tag, an dem sich Hitler in Berlin erschoss und in San Francisco die Vereinten Nationen gegründet wurden. Die allzu leichtsinnige Ostpolitik George W. Bushs. Karl Jaspers Achsenzeit-Theorie. Ein Treffen zwischen Loriot und Michail Gorbatschow während einer Aufführung der „Götterdämmerung“ in Bayreuth, bei welchem der deutsche Humorist feststellt, dass er ebenjener Panzerdivision angehörte, die das Kindheitsdorf des späteren KPdSU-Generalsekretärs überfallen hatte.

Irrtümer sind ein Erfahrungsschatz

Oder, erinnern sie sich an 1938, wendet sich Kluge an den Schauspieler Nikolaus Benda, der ihn an diesem Abend lesend unterstützt und erst 40 Jahre später geboren ist. Lachen im Publikum. Was diesen Wust an Daten, Ideen und Vorgängen eint, ist, dass sie jeweils Möglichkeitsräume, Alternativen zur Wirklichkeit, eröffnen. Kluge sucht nach den Nahtstellen  der Geschichte. Nach Fehlern, glücklichen Verläufen, zu spät erkannten Wendepunkten: „Wenn man die Gründe der Irrtümer erforscht, stößt man auf einen Schatz der Erfahrung.“

Nur so könne man auch den Ukrainekrieg zum Stolpern bringen, in einem Moment, in dem beide Seiten – unabhängig davon, bei wem  die Kriegsschuld liegt – Schwächen in ihren Panzerungen zeigen.

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Dass sei der Mut des Hasen, lobt Kluge noch ein viertes Tier an diesem Abend. Während der Dreharbeiten zu seinem ersten Film, „Abschied von Gestern“, habe er Hasenbilder auf jüdischen Gräbern in Frankfurt gefunden, als Symbol der Wehrhaftigkeit. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, lautet der Kernsatz von Adornos „Minima Moralia“.

Alexander Kluge hat die berühmte Sentenz in einem Film mit der Wiener Musikerin Gustav,  bürgerlich Eva Jantschitsch, ergänzt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen.“

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