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Dürer-BildbandEin Künstler, den es gar nicht hätte geben dürfen

6 min
Ein Jugendlicher diskutiert mit alten Männern.

„Jesus und die Schriftgelehrten“ (Ausschnitt) von Albrecht Dürer

Der große Taschen-Bildband zu Albrecht Dürer soll opulent und gleichzeitig ein wissenschaftliches Standardwerk sein. Geht das?

Als Albrecht Dürer im Jahr 1505 zum zweiten Mal nach Venedig reiste, war er bereits ein berühmter Mann, nach eigenem Empfinden aber weiterhin ein Lehrling. An den italienischen Meistern wollte er dieses Mal studieren, wie sich das mathematische Wissen um die Zentralperspektive mit der lebendigen Naturbetrachtung in eine schöne Harmonie bringen lässt, und erlebte ganz nebenbei, wie sich die venezianische Kultur von der deutschen unterschied. „Oh, wie wird mir nach der Sonne frieren“, schrieb er in den kalten Norden. „Hier bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer.“

Als „Schmarotzer“ wurde Dürer auch von seinen deutschen Auftraggebern vermutlich nicht behandelt. Aber wohl noch als Dienstleister, während sich der Nürnberger Grafiker und Maler bereits als Künstler verstand – und als solchen malte. 1498 erblickte Dürer im Spiegel einen Herrn in extravaganter, ganz und gar unzünftiger Kleidung, zwei Jahre später ließ er sein Selbstbildnis als Jesus folgen. Die humanistische Idee, der Maler sei ein Schöpfer, war um 1500 auch im Norden populär geworden, und Dürer erschien die Kunst offenbar als Reich, in dem die Gesetze der sozialen Wirklichkeit aufgehoben waren. Wobei er seine schulterlangen Jesuslocken auch im echten Leben trug.

Dürer ist ein Publikumsliebling, der erste moderne deutsche Künstler

Heute könnte sich Albrecht Dürer über mangelnde Wertschätzung nicht mehr beklagen – auch wenn es wieder aus der Mode gekommen ist, die deutsche Renaissance zur Dürerzeit zu verkürzen. Er ist ein globaler Publikumsliebling, „Erfinder“ der neuzeitlichen Melancholie, der erste deutsche Künstler im modernen Sinn (in der Selbstvermarktung stach er selbst Cranach aus) und Schöpfer unsterblicher Hasen-, Grasbüschel- und Menschenporträts. Auch die Kunstwissenschaft hat sein Leben und Werk mit Röntgenaugen untersucht und, wie Christof Metzger im Vorwort seines neuen Dürer-Bandes schreibt, ihre Erkenntnisse in zahlreichen dicken Bildbänden hinterlegt. „Was also dürfen die Leser von dieser Publikation erwarten?“, fragt Metzger selbst.

„Selbstbildnis“ als Jesus von Albrecht Dürer

„Selbstbildnis“ als Jesus von Albrecht Dürer, aus dem Buch im Taschen Verlag

Die Antwort ergibt sich teilweise aus dem Verlag, in dem „Albrecht Dürer. Sämtliche Gemälde. Ausgewählte Zeichnungen und Druckgrafiken“ erscheint – Taschen aus Köln. Metzgers Dürer-Band ist dicker, schwerer und üppiger bebildert als alles zum Künstler bisher Dagewesene. Er bringt bei 798 Seiten 7,7 Kilo auf die Waage, ist aber nicht nur ein Bildband mit Textbeigabe, sondern auf den ersten knapp 340 Seiten ein klassisches Werkverzeichnis der 76 Dürer oder seiner Werkstatt zugeschriebenen Gemälde. Als solches tritt es in Konkurrenz zum bestehenden Standardwerk, Fedja Anzelewskys „Albrecht Dürer – das malerische Werk“, das 1971 erstmals und 1991 in seiner letztgültigen Fassung erschien. 34 Jahre später scheint eine Revision des Forschungsstandes tatsächlich nicht verfrüht.

Ein neues Dürer-Bild entwerfen Metzger, Kurator an der Wiener Albertina, und seine Mitautoren Karl Schütz und Julia Zaunbauer nicht – was auch gar nicht ihr Anspruch ist. Stattdessen geben sie wieder, was wir ihrer Auffassung nach derzeit gesichert über Albrecht Dürer und seine Malerei wissen können. Sein Leben wird in fünf Kapiteln nacherzählt, zu jedem Gemälde gibt es eine ausführliche Diskussion von Zustand, Herkunft und Geschichte. Sollte Metzger versucht gewesen sein, den Band mit einer spektakulären Neuentdeckung oder Abschreibung zu bewerben, hat er diesem Gefühl nicht nachgegeben. Immerhin setzt er Fragezeichen hinter zwei unscheinbare Porträts (eines davon aus Berlin), die durch restauratorische Verschlimmbesserungen in einem derart desolaten Zustand sein sollen, dass sich Dürers Urheberschaft darauf nicht mehr nachweisen lasse. Vermutlich ist das nichts, was die Fachwelt außerhalb der betroffenen Museen in Aufruhr versetzt, und sicher nichts, was eine darüber hinausgehende Leserschaft elektrisiert.

„Maria mit Kind“ von Albrecht Dürer

„Maria mit Kind“ von Albrecht Dürer, aus dem Buch im Taschen Verlag

Auch eine griffige, durch eine These zusammengehaltene Gesamtdarstellung von Dürers Leben, Werk und Zeit bietet das Buch nicht – dafür konsultiert man immer noch besser Erwin Panofskys kunsthistorischem Klassiker aus dem Jahr 1943. An spannenden Detailfragen ist der Taschen-Band dafür überreich, und wer sich an Panofskys etwas ungnädiger Charakterisierung von Dürers Ehefrau stört, findet bei Julia Zaunbauer eine deutlich ausgewogenere Bewertung der allgemein als „unglücklich“ beschriebenen Ehe. Schon dieses eher private Beispiel zeigt, dass auch in der Dürer-Wissenschaft keine Frage jemals als abschließend beantwortet gelten kann.

Gerade die Alten Meister stellen die Historiker vor manche Rätsel. Metzger führt dies sehr anschaulich an Dürers berühmten Porträt seines 70-jährigen Vaters vor, von dem mehrere Fassungen überliefert sind, weil populäre Bilder damals oftmals bereits zu Lebzeiten ihrer Schöpfer nachgeahmt wurden. Bei Dürers Vaterbild können sich die Experten nicht einmal darauf einigen, ob das Original überhaupt noch existiert. Metzger hält die Version in der Londoner National Gallery für authentisch – im Gegensatz zum Museum selbst. Sein Argument ist so schlicht wie schlagend: Obwohl in schlechten Zustand (der gesamte Hintergrund fehlt) sei es am besten gemalt.

Muss die Geschichte des Kölner Dürer-Bildes umgeschrieben werden?

Beim einzigen Kölner Dürer-Gemälde, den Musikanten aus einem mehrtürigen, auseinander gerissenen Altarbild, favorisiert Metzger eine andere Herkunft als auf der Internetseite des Wallraf-Richartz-Museums angegeben wird. Man weiß, dass der Pfeifer und der Trommler auf ihrem Türflügel einem von Krankheit geschlagenen Hiob aufspielen (wohl, um ihn aufzumuntern), während ihm seine Ehefrau mit dem Inhalt eines Wassereimers übergießt. Lange vermutete man darin eine Spottgeste der Gattin, doch mittlerweile sieht man darin eine therapeutische Maßnahme. Das Wallraf hat sich daher der Meinung angeschlossen, das gesamte Altarbild sei für die Kapelle eines sächsischen Wasserkurorts geschaffen worden: das „Hiobsbad“ bei Annaberg.

Metzger nennt diese Theorie „weit hergeholt“ und schließt sich stattdessen einer anderen an. Demnach gab Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen, das Rentabel bei Dürer in Auftrag, um in Wittenberg einen der Heiligen Anna gewidmeten Altar zu schmücken. Friedrich, so Metzger, habe Hiob wegen einer ausgeprägten Furcht vor Seuchen zu seinen Hausheiligen gezählt, und auch die Entstehungszeit des in einer Kapelle aufgestellten Altars passe. Man mag bezweifeln, ob dies das letzte Wort in der Sache bleibt. Sicher wissen wir immerhin, dass Dürers Musikanten spätestens im 17. Jahrhundert von der Kölner Kaufmannsfamilie Jabach erworben wurden und über Ferdinand Franz Wallraf ins Museum kamen.

Das Werkverzeichnis der Gemälde ist das Herz dieses Bandes, aber sein kleinerer Teil. Mehr als die Hälfte seiner Seiten ist für die 475 Zeichnungen reserviert, die, nach Motiven wie Landschaft, Tiere oder Porträts geordnet, in exzellenten Reproduktionen ausgebreitet werden – laut Metzger die Mehrzahl erstmals in Farbe und bestmöglicher Qualität. Inhaltlich muss sich der Leser hier mit einleitenden Texten begnügen; die im Buchtitel versprochenen Grafiken kommen sogar lediglich als Illustrationen der biografischen Kapitel vor. Vermutlich ist dieser opulente Bildanhang der Kompromiss, der das Werkverzeichnis über den Kreis der Fachwelt hinaus verkaufen soll.


Christof Metzger, Karl Schütz, Julia Zaunbauer: „Albrecht Dürer. Sämtliche Gemälde. Ausgewählte Zeichnungen und Druckgrafiken“, 798 Seiten, Taschen Verlag, 175 Euro