Kommentar zur ESC-KontroverseEin Lied macht noch keine Revolution

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Mit politischen Tönen gewonnen: Die Ukrainierin Jamala hat mit ihrem Lied "1944" die meisten Punkte beim ESC geholt.

Berlin – Die ukrainisch-tatarische Sängerin Jamala hat den Eurovision Song Contest gewonnen – und halb Osteuropa ist in Aufruhr. Russland argwöhnt eine Verschwörung oder sogar eine hybride Kriegführung mit anderen Mitteln. Die unterdrückten Krimtataren dagegen und auch viele Ukrainer wittern Morgenluft, und so wird die bunte Shownachricht unversehens zum harten politischen Thema.

Dafür gibt es Gründe. In ihrem Lied singt Jamala, die Tochter eines Krimtataren, über die Deportation ihrer Vorfahren im Jahr 1944, unter Stalins Gewaltherrschaft. Und natürlich denkt dabei jeder an die russische Annexion der Krim 70 Jahre später und an den schwelenden russisch-ukrainischen Bruderkrieg im Donbass. Es war also – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – ein eminent politischer Song, der beim ESC siegte.

Bis die Panzer rollten

Noch etwas kommt hinzu: Es gibt diese historischen Momente, in denen die Zeit reif ist für Veränderungen und nur auf einen emotionalen Katalysator zu warten scheint. Deutschlands Fußball-Wunder von Bern, der Weltmeistertitel von 1954, war so ein Ereignis, das bis heute nachwirkt. Aber man denke auch an 1968! Kurz vor dem Höhepunkt des Prager Frühlings gewannen die tschechoslowakischen Eishockeyspieler bei Olympia 5:4 gegen die UdSSR –  und entfachten das Reformeuer in Böhmen und Mähren, bis sowjetische Panzer rollten.

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Übrigens beförderte auch der erste ukrainische ESC-Sieg 2004 mit Sängerin Ruslana die demokratische orange Revolution in Kiew. Aber schon damals zeigte sich, dass ein Lied allein (oder ein sportlicher Sieg) eben doch noch keinen politischen Frühling oder gar Sommer macht, und es wird sich diesmal, im Falle von Jamala, erst recht erweisen. Entscheidend sind letztlich die politische Großwetterlage und konkretes Handeln.

Im Fall der Ukraine und beim Blick auf die annektierte Krim gibt es deshalb auch wenig Grund zur Hoffnung. Die russische Position im Osten des Landes ist so stark und abgesichert, dass es keine Rückkehr zur territorialen Integrität der Ukraine geben wird, bevor sich kein grundlegender Wandel in Moskau einstellt. Dramatischer ist allerdings der Dilettantismus der Regierenden in Kiew, die es in den zwei Jahren seit der Maidan-Revolution nicht geschafft haben, die alles zerfressende Korruption im Land und vor allem die zerstörerische Macht der Oligarchen zu brechen.

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