Krieg in der UkraineWie ein Theater in Kiew den Bomben trotzt

Tanya Shelepko bei Theaterproben in Kiew.
Copyright: Tanya Shelepko/privat/dpa
Kiew – Mächtige Explosionen sind in Kiew zu hören. Während die Hauptstadt der Ukraine von Russland angegriffen wird, läuft in einem Kellertheater eine Aufführung. Der junge Schauspieler Daniil Prymachov stellt einen Gefangenen dar, der mit verbundenen Augen auf einem Stuhl sitzt. Zwei andere Männer tauschen sich darüber aus, wie sie mit ihm verfahren sollen. Sie werden gespielt von Alina Zevakova und ihrem über eine Videoverbindung aus der Westukraine zugeschalteten Kollegen Valerii Simonchuk. Das Stück heißt „The New World Order“ (Die neue Weltordnung), ein Einakter des britischen Dramatikers und Nobelpreisträgers Harold Pinter (1930–2008). Das Publikum hier unten besteht aus zehn Menschen – alle wohnen auch hier. Im Livestream verfolgen noch einmal bis zu 300 Zuschauer die Aufführung.
Eine absolut seltsame Erfahrung ist dieser Krieg
Am Tag danach sagt die Regisseurin Tanya Shelepko, die Erfahrung sei „absolut seltsam“ gewesen. „Während der ganzen Vorstellung wurde bombardiert. Was wir taten, fühlte sich falsch und richtig zugleich an.“ Falsch, weil sie mitten im Krieg Theater spielten, und richtig, weil sie dem Publikum doch etwas geben können? Tanya Shelepko kann die Frage nicht beantworten. „Wir werden darüber später nachdenken“, sagt sie. Später. „Nach dem Sieg.“
Ein Ende des Krieges ist nicht abzusehen, aber der Anfang scheint auch schon weit weg. Tanya Shelepko weiß noch genau, wie alles losging. Ihr Wecker war auf sechs Uhr gestellt, aber an jenem Morgen des 24. Februar wurde sie früher wach. Es war 5.42 Uhr. Sie wird die Zeit niemals vergessen. Der dumpfe Knall von Explosionen hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Zwei Minuten später rief ihr Freund an und sagte ihr: „Der Krieg hat begonnen.“
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Auch Andrii Palatnyi hat genaueste Erinnerungen an den Morgen des 24. Februar. „Der Krieg kam zu mir im Zug nach Mariupol“, erzählt er. Der Kurator des preisgekrönten internationalen Kulturfestivals GogolFest war unterwegs in die Hafenstadt, als der Zug gegen vier Uhr morgens plötzlich mitten auf freiem Feld anhielt. Der Zug musste umkehren, zurück nach Kiew. Mariupol ist heute in weiten Teilen eine Trümmerwüste. Das Theater, das Andrii Palatnyi so gut kennt, wurde bombardiert, obwohl dort Zivilisten Schutz vor Luftangriffen gesucht hatten. Hunderte sollen umgekommen sein. Auf einer eilig aufgesetzten Website kann man sehen, was Mariupol vor dem Krieg gewesen ist: eine pulsierende Metropole, gerade auch kulturell. Mariupol war ukrainische Kulturhauptstadt 2021.
Tanya Shelepkos erste Reaktion auf den Krieg bestand darin, Kiew zu verlassen. Aber nach drei Tagen kehrte sie zurück, weil sie das Gefühl hatte, nicht dort zu sein, wo sie sein sollte. Anfangs kam ihr der Gedanke an künstlerische Arbeit falsch vor, doch nach etwa zwei Wochen setzte sich bei ihr die Überzeugung durch: „Ich bin eigentlich Theaterregisseurin, und jeder sollte das machen, was er am besten kann.“ Deshalb begann sie, am ProEnglish Theatre, dem einzigen englischsprachigen Theater der Ukraine, „The New World Order“ einzustudieren.
Auch in der U-Bahn von Kiew sind viele Künstler aktiv
Auch in der U-Bahn von Kiew, in der viele Familien Zuflucht gesucht haben, sind Künstler aktiv. Sie zeichnen mit Kindern und bauen Skulpturen mit ihnen. Sie lesen ihnen Geschichten vor und führen Puppentheater auf. Kinder sind meist besser als Erwachsene darin, Sorgen, Trauer und Angst wegzuschieben und sich ganz auf den Augenblick einzulassen. Die Beschäftigung mit der Kunst lässt sie das große Unglück für kurze Zeit vergessen.
Theater spielen im Krieg – macht das überhaupt Sinn? Allen Ensemblemitgliedern ist es wichtig, dass sie tagsüber praktische humanitäre Hilfe leisten. Sie verteilen Lebensmittel und Medikamente, unterstützen ausländische Reporter, die immer noch aus Kiew berichten. Nur abends, wenn die Ausgangssperre gilt, proben sie.
„Es ist relativ sicher hier“, erzählt Tanya Shelepko. Klar, passieren kann trotzdem was: „Manchmal denkt man zwei Sekunden darüber nach, aber dann hat man auch wieder anderes zu tun. Im Frieden habe ich viel öfter über solche Risiken nachgedacht. Jetzt ist die Zeit, ans Leben zu denken.“Als die Premiere ihrer Inszenierung am vergangenen Sonntag – dem Welttheatertag – live gestreamt wird, gehen aus allen Teilen der Welt Solidaritätsbekundungen ein. Sind noch weitere Vorstellungen für die nächsten Wochen geplant? Die Theatermacher müssen ein bisschen kichern über diese Frage. Valerii Simonchuk antwortet: „Planen ist kein Wort, das wir derzeit oft verwenden.“ (dpa)