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Neues Pulp-AlbumDas Alter, der Sex und die passenden Regenbogensocken

Lesezeit 4 Minuten
Die vier verbliebenen Mitglieder von Pulp sitzen auf einem weißen Sofa vor hellgrüner Wand.

Jarvis Cocker (zweiter von links) und seine Band Pulp anno 2025

Jarvis Cocker hat uns 24 Jahre lang auf ein neues Album seiner Band Pulp warten lassen. Auf „More“ besingt er jetzt die verronnene Zeit.

Als der Britpop seinen Höhepunkt endgültig überschritten hatte, veröffentlichte Jarvis Cocker – Großbritanniens viertberühmtester Brillenträger nach Harry Potter, Elton John und David Hockney – mit seiner Band Pulp eine Single, in der er zum phlegmatisch ausgebremsten Tempo flehte: „Helft den Alten/Einst waren sie genau wie du“. Im Video zum Song ließ sich Cocker in einem Treppenlift genüsslich langsam zu seiner ein Stockwerk höher wartenden Band hochfahren.

Das verkaufte sich natürlich nicht so gut wie „Disco 2000“ und „Common People“, die discoiden Banger, mit denen Pulp 1995 in die Königsklasse der Cool-Britannia-Schule aufgestiegen waren, zu Blur, Oasis und Suede. Aber den Tony-Blair-Pop verachtete die Band aus der unglamourösen Arbeiterstadt Sheffield sowieso, schön nachzuhören in Cockers ätzendem Song „Cocaine Socialism“.

Während Oasis lautstark implodierten, verschwanden Pulp ganz still

Da gab man sich lieber etwas älter und deprimierter als man sich eh schon fühlte. Während Oasis im Bruderzwist lautstark implodierten, verschwanden Pulp nach einem letzten, versöhnlichen Album namens „We Love Life“ heimlich, still und leise. „Das Universum zuckte mit den Schultern und machte einfach weiter“, erinnert sich Jarvis Cocker heute.

Das war im Herbst 2001 und mit dem Abstand eines Vierteljahrhunderts kann man feststellen, dass die finalen Krisenalben von Pulp viel besser gealtert sind als die selbstbesoffenen Mittneunziger-Hauptwerke der Britpop-Konkurrenten. Zwischenzeitlich hatte Cocker die Band immer mal wieder zusammengetrommelt, hier ein Festivalauftritt, dort eine kleine Tour. Aber erst als Pulp-Bassist Steve Mackey in Frühjahr 2023 starb, beschlossen die überlebenden Bandmitglieder, sich selbst über den Alterungsprozess hinwegzuhelfen und der eigenen Sterblichkeit eine neue Platte abzutrotzen. „So lange du noch lebst, hast du auch die Möglichkeit etwas zu erschaffen“, sagte sich Cocker und taufte die neue Liedersammlung mit der ihm eigenen Lakonie „More“.

Die Lücke von 24 Jahren in der Diskografie dürfte rekordverdächtig sein. Tatsächlich kommt es häufiger vor, als man denkt: Abba ließen zwischen „The Visitors“ und „Voyage“ fast 40 Jahre verstreichen, und wenn Schockrock-Veteran Alice Cooper im Juli mit „The Revenge of Alice Cooper“, dem Comeback-Album seiner gleichnamigen Band, herauskommt, werden 51 Jahre und acht Monate seit dem vorangegangenen „Muscle of Love“ vergangen sein.

Allemal gewichtiger als diese Statistiken dürften allerdings die Gründe dafür sein, auf solche verspäteten Spätwerke zu verzichten: Zumeist versauen sie das Œuvre. Weshalb Jarvis Cocker dem Vorab-Stream von „More“ ein resignatives „Das ist das Beste, was wir hingekriegt haben“ vorangestellt hat. Unnötigerweise – „More“ klingt exakt wie eine altersgerechte, aber eben keineswegs ausgebrannte Version von Pulp klingen sollte.

Jarvis Cocker besingt das unwiederbringliche Verrinnen der Zeit

Nur manchmal pumpt der Bass in Richtung Tanzflur, etwa im Auftaktsong „Spike Island“, es überwiegen die Balladen, die jedoch haben es in sich: Ein derart weit episch ausgreifendes Stück wie „Hymn of the North“ hätten Pulp in den 90er-Jahren noch nicht hingekriegt. Cockers großes Thema ist diesmal das unwiederbringliche Verrinnen der Zeit, als hätte der heute 61-Jährige all die Jahre absichtlich gewartet, um dazu Profundes und Pointiertes beitragen zu können.

Das jedenfalls hat er: Im Song „Grown Ups“ träumt Cockers jüngeres Ich von einem Raketentripp zu einem neu entdeckten Planeten, dessen Bewohner „eine wirklich gute Zeit zu haben scheinen“. Nach langer Reise im Gefrierzustand angekommen, stellt der Raumfahrer fest, dass er seine Erinnerungen verloren hat. Als er durchs Teleskop auf seinen Ursprungsort zurückblickt, scheint dort jeder eine wirklich gute Zeit zu haben: „Aber wir konnten nicht zurückkehren, weil die Rakete nicht mehr genug Treibstoff hatte.“

So ist das Leben, verloren im Weltraum. Im Song „Tina“ hängt der Sänger keiner verflossenen Liebe hinterher, sondern einer, die nie stattgefunden hat. Von der er aber, über Jahrzehnte hinweg, bei jeder Zufallsbegegnung erneut tagträumt: „Auf der Rolltreppe letzten Samstag/Du trugst Regenbogenhandschuhe/Mit passenden Socken/Was für eine Zurschaustellung/alltäglicher Sexualität“.

In „Background Noise“ sinniert Cocker darüber, wie die Liebe über die Jahre zum Hintergrundgeräusch wird, „wie das Brummen eines Kühlschranks, bemerkt man sie erst, wenn sie verschwindet“. Pulp sind wieder aufgetaut und haben so viel Hintergründiges zu sagen, dass man unbedingt hinhören sollte.

„More“ ist bei Rough Trade Records erschienen.