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Osman Okkan über die Kultur in Köln„Es gab eine unübersehbare Abwärtsspirale“

Lesezeit 7 Minuten
Der Journalist und Filmemacher Osman Okkan vom KulturForum Türkei Deutschland.

Der Journalist und Filmemacher Osman Okkan vom KulturForum Türkei Deutschland. 

Osman Okkan, Ehrenpreisträger des Kölner Kulturpreises, über den Niedergang der städtischen Kulturszene und die Entwicklung in der Türkei.

Herr Okkan, vor 60 Jahren sind Sie zum Studium nach Münster gekommen. Sie haben sich lange in der Gewerkschaftsarbeit engagiert, haben schon früh journalistisch gearbeitet. Wann wurde Ihnen bewusst, dass die journalistische Beschäftigung mit dem Thema Migration allein nicht ausreichte?

Ich merkte, dass irgendetwas fehlte. Man ging die Themen mit Professionalität an, aber die prekäre Situation der sogenannten Gastarbeiter, deren kulturelle Identität und das Potenzial, das sie mitbrachten, wurde völlig verkannt und auf Folklore beschränkt. Ich war schon in der Türkei verwoben mit der Kulturszene und dachte, man sollte diese Menschen zusammenbringen. Das würde den türkeistämmigen Menschen hier guttun, aber auch für die hiesige Gesellschaft könnte dieser kulturelle Austausch bereichernd sein. Wir wollten die Möglichkeit schaffen, dass man sich auf Augenhöhe begegnet.

War Ihnen sofort klar, dass der Blick der Deutschen auf die sogenannten Gastarbeiter sehr eingeschränkt war?

Ich komme aus der Mittelschicht der Türkei. Ich war schon in meiner Jugend politisch engagiert, hatte aber kaum Kontakt zu arbeitenden Menschen in der Türkei. Aber als Werkstudent habe ich hier erste Eindrücke gewonnen. Einer meiner „Kollegen“ erzählte mir, er arbeite seit 26 Stunden, weil es nicht genug Arbeitskräfte gab. Als ich die Werkswohnungen besuchen wollte und mit Hunden verjagt wurde, merkte ich, da ist etwas, das man nicht wahrnehmen will. Es waren ja Wirtschaftswunderjahre in Deutschland. Da war dieser berechtigte Stolz auf das Geleistete in der kurzen Zeit, aber gleichzeitig sah ich diese Vernachlässigung der Menschen, die hereingeholt wurden. Meine Motivation war es, mich für sie einzusetzen. Das führte auch zu meiner eigenen Transformation von einem Intellektuellen im Elfenbeinturm zu einem Menschen, der sich für diese Problematik öffnete und wahrnahm, was Diskriminierung heißt.

Die Deutschen blickten sehr einseitig auf das Thema Migration?

Ja. Heute wird viel über die AfD und deren Wortwahl geschrieben, aber damals hörte ich diese Losungen auch von Politikern, die an der Macht waren. Innenminister und Parteivorsitzende klangen ähnlich, sprachen von Flut, Überflutung, Überschwemmung. Da ist diese Entwicklung bis zur AfD leider nur konsequent. Es hätte schon früher ein Aufstand erfolgen müssen von Demokraten, von aufgeklärten Menschen in Deutschland und Europa, aber der ist ausgeblieben. Und so sind wir heute in der Situation, dass Menschen, die andersartig sind oder scheinen, auch wenn sie politische Flüchtlinge sind, oder gerade dann, weiterhin diskriminiert werden, trotz all der Bemühungen in den letzten Jahrzehnten.

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Heute wird viel über die AfD und deren Wortwahl geschrieben, aber damals hörte ich diese Losungen auch von Politikern, die an der Macht waren. 
Osman Okkan

Sie setzten sich seit 60 Jahren für Verständigung und Ausgleich ein, sind Sie nicht manchmal auch ein bisschen müde oder frustriert?

Diese Frustration oder Enttäuschung motiviert mich eigentlich nur noch mehr. Ich will nicht glauben, dass sich redliche, intelligente, aufgeklärte Leute damit abfinden, dass der Kulturbereich vor allem in Bezug auf Minderheiten in eine Ecke gestellt wird und im Vergleich mit der sogenannten Hochkultur praktisch keine Relevanz mehr hat. Ich habe Wirtschaftswissenschaften studiert und denke manchmal, das ist die Spiegelung der wirtschaftlichen Polarisierung.

Die erleben wir auch im Kulturbereich.

Ja, Menschen können sich nicht zu Wort melden, weil sie wirtschaftlich an der kurzen Leine gehalten und quasi als schicksalbehaftetes „Prekariat“ immer weniger berücksichtigt werden. Ich habe nichts gegen Hochkultur, aber man müsste eine echte Chancengleichheit im kulturellen Bereich herbeiführen. Und das ist nicht nur den Konservativen anzulasten. Ich habe auch, als Sozialdemokraten und Grüne an der Regierung waren, erlebt, wie lässig man mit solchen Fragen umgeht. Es hat wirklich Jahrzehnte gebraucht, bis man verstanden und eingestanden hat, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind.

Aber da hat doch eine Veränderung stattgefunden.

Wenn man bei einem Regierungswechsel sagt, wir sind eine multikulturelle Gesellschaft, ist das Problem aber noch lange nicht erledigt. Nur mit der Begriffsänderung geht das nicht einher, man muss hätte strukturelle Maßnahmen ergreifen und langfristige Strategien entwickeln müssen. Das war bis heute nicht der Fall und das ist sehr traurig. Die Auswirkungen auf die Bildungspolitik, das Festhalten am diskriminierenden Schulsystem, führt zu einer enormen Intelligenzverschwendung. Die Schere zwischen Reich und Arm, zwischen Bildungsbürgertum und sogenannten „bildungsfernen Schichten“, und infolgedessen konkret zwischen Ausgaben für die Hochkultur und den kulturellen Angeboten für einkommensschwachen, sogenannten prekären Schichten wird immer größer; die Statistiken sprechen eine eindeutige Sprache.  Und der neue Staatsminister für Kultur ist in seiner bisherigen Medienkarriere eher durch eine Rückbesinnung auf eurozentristische und neokolonialistische Tendenzen aufgefallen. Ich kann nur hoffen, dass wir stark und resilient genug sind, dagegen anzukommen.

Was mit der Oper und dem Stadtarchiv geschieht, die jahrzehntelangen Diskussionen über das Tanztheater - es ist, ich sage es auch selbstkritisch, eine Schande
Osman Okkan

Und doch wird in Krisenzeiten meist als Erstes bei der Kultur gespart.

Gerade in Köln finde ich das schade. Als ich vor über 40 Jahren nach Köln kam, war die Szene viel motivierender; ich gab bei meinen Freunden in Amsterdam und Paris an: „Wir haben hier fast mehr Galerien als bei Euch!“. Es gab eine unübersehbare Abwärtsspirale. Das liegt, so bitter das ist, auch an der Stadtgesellschaft. Was mit der Oper und dem Stadtarchiv geschieht, die jahrzehntelangen Diskussionen über das Tanztheater - es ist, ich sage es auch selbstkritisch, eine Schande. Man vernachlässigt das alles. Ich will niemandem zu nahe treten, dafür kenne ich die einzelnen Kandidaten zu wenig, aber dass man ausgerechnet einen Baudezernenten, der mitverantwortlich sein dürfte für diese Entwicklungen, zum OB-Kandidaten kürt, empfinde ich wie eine Real-Satire vor. Die Verelendung, die Entwicklungen am Ebertplatz und am Neumarkt einerseits und die prosperierenden Stadtteile andererseits, in denen immer exorbitantere Mieten verlangt werden, belegen, dass die erwähnte Schere auch hier weiter auseinandergeht. Als mündige Bürger sollten wir uns damit nicht abfinden.

Die Kölner rühmen sich gerne ihrer Weltoffenheit und Toleranz. Ist das wirklich so?

Es könnte so sein. Die Offenheit ist etwas sehr Schönes, aber ich halte von solcher Selbstbeweihräucherung nicht viel. Viele fühlen sich von Köln angezogen, gerade weil das Außenbild so ist, aber das darf nicht dazu führen, dass man sich zurücklehnt. Die Verwaltung, aber auch die Akteure der Zivilgesellschaft sind nachlässig geworden mit dem eigenen Stadtbild. Das Büro des Kulturforums ist ein paar Meter entfernt von der Bastei. Deren Zustand ist eine Katastrophe. Sie ist ein kulturhistorisches Kunstwerk; egal, wie wir zu ihm emotional stehen, aber was ist daraus geworden?

Nachdem Sie noch als Student in Münster für eine „Monitor“-Sendung einen Beitrag über die rechtsextremen Grauen Wölfe gedreht hatten, wurden Sie von der Türkei als Terrorist verfolgt und ausgebürgert. Später wurden sie zwar rehabilitiert und haben auch Filme in der Türkei gedreht, aber seit Erdogan immer autokratischer regiert, reisen Sie nicht mehr in die Türkei. Wann waren Sie zuletzt dort?

Das war kurz vor dem dilettantisch inszenierten Militärputsch am 15. Juli 2016. Es liegt angeblich nichts gegen mich vor, was zu einer Verhaftung oder Polizeigewalt führen könnte. Man kann es aber nicht ausschließen. Die Entwicklung dort ist sehr bedauerlich. Ich erlebe tagtäglich, dass die Gefahr besteht, wegen eines Social-Media-Eintrags oder irgendeiner kritischen Bemerkung verfolgt zu werden. Und ich halte ja nicht hinter dem Berg mit meiner Meinung, wenn ich die Ereignisse in der Türkei kommentiere oder Filme drehe. Das wäre ein Abenteuer, das ich in meinem Alter nicht auf mich nehmen will.

Über die aktuellen Proteste nach der Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, wird zwar berichtet, aber grundsätzlich habe ich das Gefühl, dass die Türkei aus dem Fokus geraten ist, weil so viel in der Welt passiert.

Es ist leider so, dass Erdogan das sehr geschickt ausnutzt. Er positioniert sich außenpolitisch als eine unverzichtbare Kraft im Mittleren Osten. Seine Regierung erhöht andererseits die Repressalien im Lande immer weiter, um die Macht zu erhalten. Es ist unfassbar, was für ein Druck auf die Menschen ausgeübt wird. Davon kommt nichts hier an. Dass man mit Erdogan und seinen Leuten so ein Verhältnis pflegt, nur weil sie als ein Bollwerk gegen Flüchtlingsströme gesehen und alimentiert werden, ist unfassbar und im tiefsten Sinne unmoralisch.

Trotz der Repressalien gibt es Proteste, Menschen wagen sich auf die Straße. Sehen Sie die Chance auf Veränderungen zum Guten?

Wir sehen vor allem mutige, junge Menschen, aber endlich auch massenhaft „normale“ Bürger, die aufstehen und alles riskieren - ihr Leben, ihre Unversehrtheit, ihre Karriere, ihre Zukunft. Man muss ihnen beistehen. Es kann sich durchaus etwas ändern, auch durch den Druck der europäischen Öffentlichkeit. Nur darf man nicht ständig den Eindruck erwecken, die EU könnte auf die aktuelle Führung nicht verzichten. Dann ändert sich nichts. Wenn die politisch Verfolgten in der Türkei in Freiheit wären und ein fairer Wahlkampf durchgeführt werden könnte, wäre Erdogan längst weg. Nur das will er ja verhindern. Es kann aber nicht im Sinne von angeblich Werte-basierter Außenpolitik sein, dass man ihn an der Macht hält.

Sie haben der vorherigen Bundesregierung eine Kuschelpolitik vorgeworfen gegenüber Autokraten wie Erdogan. Jetzt gibt es eine neue Regierung. Was erwarten Sie von dieser?

Wenn man aus Erfahrung spricht, kann man nicht viel Positives erwarten, aber ich zähle immer auf die Menschen, die anständig und aufgeklärt sind. Es gibt keine andere Lösung. Es gibt diesen Funken, und den müssen wir befeuern durch den Einsatz, den wir für Menschenrechte, für Frieden, für Kultur und Aufklärung aufbringen.


Osman Okkan, Jahrgang 1947, ist Filmemacher, Journalist, Autor und Aktivist. Er war bis März 2025 Sprecher des KulturForums Türkei Deutschland, das er mitgegründet hat. Er hat preisgekrönten Dokumentationen wie „Mordakte Hrant Dink“ gedreht. Neben seiner Beschäftigung als WDR-Redakteur war Okkan bis 2017 als Lehrbeauftragter an der Uni Essen tätig. Zu 15. Mal verleiht der Kölner Kulturrat am 20. Mai den Kölner Kulturpreis. Osman Okkan wird mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet.

Erstmalig wird die Gerhart und Renate Baum-Stiftung einen auf aktuelle Musik bezogenen Sonderpreis bei der Verleihung des Kölner Kulturpreises einbringen. Dieser jährlich zu vergebende Preis soll ein Anreiz sein für offene Formen von Ensemblearbeit, gern auch mit Blick auf benachbarte Künste. Die ausgezeichneten Künstlerinnen und Künstler sollten in Köln geboren sein oder in Köln studiert oder eine künstlerische Präsenz in Köln haben. Der Preis ist mit 5.000 Euro dotiert.

Als erste Preisträger hat die Jury unter dem Vorsitz von Renate Liesmann-Baum das Ensemble Kollektiv3:6Koeln ausgewählt.„ Mit seinem innovativen Ansatz, in Netzwerken statt in Hierarchien zu denken, verschiedene Kunstformen, Genres und Ästhetiken zu integrieren, die Rollen von Interpreten und Komponisten zu vermischen, repräsentiert das Kollektiv3:6Koeln eine wachsende Tendenz in der zeitgenössischen Musik, was es zu einem würdigen Preisträger eines Preises für Aktuelle Musik“ macht“, heißt es in der Begründung der Jury.