Kontrapunkt-Konzert mit Musik von Astor Piazolla und Martin Palmeri in der Philharmonie
Tango Nuevo in der PhilharmonieIst das nun Kitsch oder Kunst?

Mariano Chiacchiarini
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Programmatische Lockerungsübungen? Davon durfte man wohl sprechen, als die von Haus aus auf Hardcore-Klassik geeichten Kontrapunkt-Konzerte in der Kölner Philharmonie (Veranstalter: Martin und Henning Blankenburg) am letzten Termin der Saison ein „Argentinisches Feuer“ entzündeten und das Publikum in die Welt des Tango Nuevo entführten. Was so viel heißt wie: in die Welt des Astor Piazolla und seiner Nachfolger. Die Verwurzelung ihrer Musik auch in der europäischen Kunstmusik ist dabei unstrittig – neben dem französischen Impressionismus ist da vor allem immer wieder Bach geltend zu machen, dessen Fugenkünste auf originelle Art mit den Rhythmen des erotisch-auratischen lateinamerikanischen Tanzes verschmelzen.
Ist das nun U oder E, Kitsch oder Kunst, Schmalz oder Schmelz? Vor allem ist Tango Nuevo ein faszinierender Hybrid, bei dessen Beurteilung ein humorlos-verbissenes Kunstrichtertum nicht so recht greifen will. Soll man dieser Musik etwa ernstlich vorwerfen, dass sie und sei es im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert nicht nach Schönberg und Nono klingen will? Klar, da tönt es auch sentimental nach Kaffeehaus, und die bis zum Schluss nicht aufgelösten Dissonanzen wirken „süffig“, nicht verstörend. Aber der eigenartigen Melange aus Melancholie und Vitalität wird sich so schnell wohl kaum jemand entziehen können. Zu diesem Effekt trägt selbstredend die sehr spezifische Klangsprache bei: Das kleine Streichorchester bleibt ohne Bläserfarben, dafür kommt als dominierendes Instrument das Bandoneon hinzu – an diesem Abend hinreißend von dem argentinischen Meister Victor Hugo Villena gespielt.
Berückend waren immer wieder die ganz leisen Chorstellen
Der stieg bereits in Piazolla-Sektion (mit den drei teils legendären Sätzen „Fuga y Misterio“, „Oblivion“ und „Libertango“) ein und dominierte dann auch das Hauptwerk, Martín Palmeris 1996 uraufgeführte „Misa a Buenos Aires“. Diese Tango-Messe lehnt sich bis in die Figurensprache an europäische Vorbilder der Messkomposition an, und das fugierte Agnus dei gemahnt, auch in seiner Steigerungsdramaturgie, unüberhörbar an den Parallelsatz aus Bachs h-Moll-Messe (wenngleich es am Schluss im Unterschied zu diesem in Unhörbarkeit verschwebt).
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Ein weiterer Argentinier – Mariano Chiacchiarini am Pult – sorgte dafür, dass das Ganze trotz starker Lokalfarben und intensiv ausgezogener Melodien nicht in eine hemmungslose Fiesta ausartete. Mit dem WDR Rundfunkchor und dem WDR Funkhausorchester (plus Komponist Palmeri am Flügel) waren Kölner Ensembles am Werk, die stilistisch den Schwenk in Richtung Buenos Aires ziemlich gut bewältigten, aber gleichfalls stets Maß und Dekor wahrten. Berückend immer wieder die ganz leisen Chorstellen, die dank guter Stütze und Intonation nie im Off zu landen drohten. Die Solo-Sopranistin Agens Lipka legte eine ordentliche, keine überragende Performance hin, ließ es im Timbre ein wenig an Innigkeit und Herzlichkeit fehlen.
Als Zugabe erklang dann noch Palmeris anrührendes und anrührend gespieltes „Ave Maria“. Die Lockerungsübungen gerieten also auch ausweislich des Publikumszuspruchs zu einem einhelligen Erfolg. Nichts spricht dagegen, sie in dieser oder jener Richtung fortzusetzen. Wie das Programm 2025/26 der Kontrapunkt-Konzerte zeigt, ist man diesbezüglich eh schon unter vollen Segeln unterwegs.