„Wellerman“Warum ein altes Seemannslied Deutschlands neue Nummer Eins ist

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Nathan Evans

Glasgow – Als sich das Erschöpfungsjahr 2020 in seine letzte Woche schleppte, lud der schottische Postbote Nathan Evans seine A-Capella-Version des neuseeländischen Walfängerliedes „Soon May the Wellerman Come“ auf TikTok hoch. Für ihn war das einfach nur seine Weise, mit der Covid-Isolation zurechtzukommen. Stattdessen löste der 26-Jährige ein wahres Shanty-Fieber auf der Videoplattform aus. 

Binnen kürzester Zeit wurde Evans’ Beitrag millionenfach aufgerufen, auch viele Prominente –  von Andrew Lloyd Webber über Elon Musk bis zu Kermit dem Frosch – schlossen sich dem virtuellen Seemannschor an. Zeitungen veröffentlichten Features über den Briefträger. Schließlich kündigte er seinen Job und unterschrieb einen Plattenvertrag.

Jetzt steht Evans’ „Wellerman“ als offizielle Single auf Platz Eins der deutschen Charts. Ein Stück aus den 1860er Jahren, ohne moderne Aufbereitung, wenn man davon absieht, dass Evans seine eigene Stimme im Refrain vervielfältigt hat.

Das klingt wie ein Witz, aber eigentlich sieht man hier nur einem Seemannslied bei der Arbeit zu: Zweck der Shantys war es schließlich, einer Gruppe von Menschen, die sich noch nicht kannten, aber plötzlich auf engstem Raum wiederfanden, ein Gefühl der Gemeinschaft zu geben. Und einen Rhythmus für die gemeinsame Aufgabe. Damit sie etwa beim Hissen oder Reffen der Segel zugleich an einem Strang zogen.

Was anscheinend auch im übertragenen Sinn funktioniert:  Wer sehnte sich dieser Tage nicht nach menschlicher Gesellschaft, und nach dem gemeinsamen Herzschlag ihrer Unternehmungen? Wer sehnt sich nicht nach der Energie, mit der  man auf ein großes Ziel zusteuert? Tatsächlich sitzen wir jeder für sich in seiner Jolle und schaukelt orientierungslos die Wellen eines endlosen Ozeans auf und ab.

Immerhin können wir die anderen singen hören – und ein Ex-Postbote aus Glasgow gibt uns den Rhythmus vor.

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