Wolfgang Niedecken zum Zweiten Weltkrieg„Lasst uns das nicht noch mal erleben!“

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Wolfgang Niedecken vor der Kölner Hohenzollernbrücke, die für ihn ein Mahnmal der Vergangenheit ist

  • Der Gründer der Rockband BAP ist ein Kind der Nachkriegszeit, die Jahre davor haben sein Leben dennoch geprägt.
  • Sein Vater war ein Mitläufer der Nazis - dafür hat ihn der Sohn hart kritisiert. Heute bringt er mehr Verständnis auf.
  • Niedecken wuchs in der Kölner Südstadt auf. Die Trümmergrundstücke waren für die Kinder ein grandioser Abenteuerspielplatz.
  • Ein Gespräch.

Köln – Wolfgang Niedecken, im Video zu Ihrem neuen Song „Ruhe vor’m Sturm“ sind Sie vor der Hohenzollernbrücke zu sehen, und das ruft natürlich Assoziationen zu einem berühmten Foto aus der Zeitgeschichte herauf.

Walter Dick hat dieses mittlerweile ikonografische Bild von der zerstörten Brücke gemacht, vom Südturm aufgenommen – im Vordergrund sieht man den Vierungsturm und im Rhein die gesprengte Brücke. Es ist wirklich unfassbar, wie nah mir dieses Fotos jedes Mal geht. Es hängt auch in meinem Arbeitszimmer, ein Memento mori: Um Gottes willen, das war alles möglich! Lasst uns das bitte nicht noch einmal erleben.

Wie haben Sie vom Krieg erfahren?

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Ich wurde zum Glück erst sechs Jahre nach Kriegsende geboren, und meine ersten Erinnerungen gehen zurück in die Zeit, als ich zirka fünf Jahre alt war. Ich kann mich an den Kindergarten erinnern, an die Einschulung – vor allem aber kann ich mich daran erinnern, dass wir als Kinder in den Trümmern gespielt haben. Auch dazu gibt es Fotos von Walter Dick, die Kinder in den Trümmern … Auch ich war ein solches Kind, und wir haben uns nicht das Geringste dabei gedacht. Das waren fantastische Abenteuerspielplätze. Unsere Eltern haben damals nicht vom Krieg geredet, sie waren rund um die Uhr mit dem Wiederaufbau beschäftigt.

Wann setzte das Bewusstsein denn ein, dass diese Spielplätze Kriegsschauplätze waren?

Später, als wir selbstständig zu denken begannen, das fiel ungefähr mit der Kuba-Krise zusammen, die ich zu Anfang meiner Internatszeit erlebt habe. Da stieg in mir zum ersten Mal die Angst bewusst auf, dass so etwas womöglich noch einmal geschehen könnte. Ich war gerade auf dieses Internat in der Eifel gekommen, als diese Krise begann, die für mich absolut einschneidend war: Die Großen tuschelten vom Dritten Weltkrieg, Atombomben und so weiter, und wir Kleinen hatten von nichts eine Ahnung! Alle Briefe, die wir nach Hause schickten, wurden zensiert, mussten den Patres vorgelegt werden. Trotzdem habe ich es gewagt, einen Brief an meine Eltern zu schreiben, dass sie mich unbedingt heimholen sollten, bevor der Krieg losgeht. Diesen Brief habe ich mit nicht abgestempelten Marken aus meiner Briefmarkensammlung beklebt. Mit Marken aus San Marino, Frankreich – keine einzige deutsche Marke war darunter, aber irgendein netter Briefträger hat ihn tatsächlich meinen Eltern zugestellt. Sie sind dann direkt in die Eifel gekommen, um mich zu beruhigen. Das war das erste Mal, dass ich so was wie Kriegsangst verspürte. Allein durch das, was man aufgeschnappt hat. Dadurch verbreitete sich eine Stimmung, an die ich mich noch detailliert erinnern kann.

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Wie war die Kölner Südstadt damals?

Ich bin an der Severinstorburg aufgewachsen, und noch heute weiß ich, wenn ich durch das Viertel spaziere, wie die Trümmer aussahen, in denen wir damals spielten. Das zog sich bis zum Hafen hinunter, Tiefkeller, Luftschutzräume, vollkommen ungesichert. Wenn ich mir vorstelle, dass meine Kinder dort gespielt hätten, wär ich wahnsinnig geworden.

Rührt Ihr Engagement für Kriegskinder – das sich unter anderem in dem Hilfsprojekt „Rebound“ niederschlägt – aus dieser Zeit?

Das kann gut sein. Was ich in Uganda und im Kongo zu realisieren versuche, hängt vor allem damit zusammen, dass ich vor Ort war und die Situation dort mit eigenen Augen gesehen habe – das war ein Wendepunkt. Zum ersten Mal war ich 2004 dort, als der Bürgerkrieg in Nord-Uganda noch in vollem Gange war. Da habe ich die sogenannten Reception Center besucht, in denen verletzte Kindersoldaten aufgenommen und behandelt wurden, auch ein wenig, was ihre Traumata anging. Was ich da gesehen habe, hat dazu geführt, dass ich über Monate hinweg über nichts anderes sprechen konnte. Das wollte ich einfach nicht hinnehmen, da ging es mir nur noch darum, dass es diesen Kids besser geht – ganz einfach.

Das Thema verliert nicht an Dringlichkeit.

Durch die Globalisierung kommt weitaus mehr ans Tageslicht. Es kommt nun physisch zu uns, was man über Jahrzehnte wegzappen konnte. Aber spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise stehen die Betroffenen bei uns auf der Matte. Da gibt es nichts mehr zum Wegzappen, so wie in dem Film „Welcome Mr. Chance“, wo alles, was böse oder unangenehm ist, mit einem Schnipp verschwindet. Die Menschen aus Syrien haben sich überhaupt nichts zuschulden kommen lassen, das sind nicht irgendwelche Idioten, die versucht haben, die Macht an sich zu reißen und nun fliehen müssen. Diese Menschen können absolut nichts dafür – was würden wir denn tun, wenn wir in einer solchen Lage wären? Auch ich würde mit meiner Familie fliehen! Und ich wäre darauf angewiesen, dass irgendwo irgendjemand barmherzig ist.

Schlägt da bei Ihnen der Restkatholizismus durch? Barmherzigkeit ist ja nun wirklich ein christlicher Wert.

Stimmt, etwas ironisch sage ich von mir ja, dass ich restkatholisch bin. Ich bin katholisch aufgezogen worden, aber ich kann nicht mehr von mir behaupten, dass ich strenggläubig bin. Allerdings bin ich auch kein Atheist. Ich glaube übrigens, dass viele Kölner restkatholisch sind. Ist doch ein schöner Begriff, oder?

„Ruhe vor’m Sturm“, Ihr Song zur Lage, der heute erscheint. Wann haben Sie den geschrieben?

Das weiß ich noch ganz genau, im November 2018. Es war der allererste Text, den ich für das neue Album geschrieben habe. Wir hatten gerade das Abschlusskonzert unserer Hallen-Tour im Palladium gespielt, bevor es im nächsten Sommer in die Open-Air-Saison gehen sollte – deswegen hatte ich Zeit, mich mit den elf Songs unseres Gitarristen zu befassen, die zum Betexten fertig waren. Wir waren in Sri Lanka, wo meine Frau eine Ayurvedakur machte, und ich als Kurschatten fand Zeit, mich mit den Stücken zu befassen, und gerade dieses Stück hat mich von der Musik her am meisten berührt. Dann geschah Folgendes: Ich hatte schon lange keinen Songtext mehr geschrieben, und nun konnte ich endlich die Schleusen öffnen. Ich musste gar nicht groß überlegen und hab meine Gedanken, meine Ängste einfach auf die Musik fließen lassen.

Brücke

Walter Dicks historisches Foto von der Hohenzollernbrücke, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs gesprengt wurde

Glauben Sie, dass es Zeit ist für ein neues „Arsch huh“? Eigentlich ist ja immer Zeit …

Es ist immer Zeit dafür, aber man darf solche Aktionen nicht inflationär handhaben. Zu jeder Gelegenheit ein „Arsch huh“-Volksfest zu veranstalten, um es ein wenig zynisch zu formulieren, bringt die Sache um ihre Wirkung. Aber ich bin sehr froh, dass es „Arsch huh“ gibt, und ich bin auch sehr froh, dass mittlerweile dort auch jüngere Bands mitmachen.

Im neuen Lied schreiben Sie im Hinblick auf die Populisten, auf „rechte Pharisäer“.

Manchmal wundere ich mich über mich selbst: Kaum läuft eine Reportage im Fernsehen, die sich mit dem Nationalsozialismus befasst, bin ich für keinen mehr zu sprechen. Ich will dahinterkommen, wieso das so war. Ich denke immer, dass ich noch etwas Neues erfahre, denn es ist für mich immer noch unbegreiflich, dass eine Kulturnation wie die Deutschen solcher Verbrechen fähig war.

Geht es Ihnen nicht auch so, dass dieses Rätsel immer größer wird, je älter Sie werden?

Das stimmt, das ist so. Natürlich gibt es Erklärungen, und ich würde sogar mittlerweile Mitläufer entschuldigen – mein eigener Vater war Mitläufer, NSDAP-Mitglied, aber vor allem weil er seinen Lebensmittelladen weiter betreiben wollte. Als ich in dem Alter war, in dem man sich mit den Eltern, vor allem mit dem Vater, über Politik stritt, habe ich ihm das natürlich unter die Nase gerieben, bis zum Abwinken. Der muss sehr unter mir gelitten haben … Doch je älter man wird, desto weniger selbstgerecht wird man. Mir ergeht es jedenfalls so. Als Jugendlicher darf man selbstgerecht sein, nach dem Motto: Das hätte ich niemals gemacht! Aber wenn man selbst Familie hat und sich in so eine Situation hineinversetzt, na ja, dann wird das schon begreifbarer. Ganz ohne Zweifel haben all die Mitläufer Hitler erst möglich gemacht. Nach dem Krieg wurde nicht mehr groß darüber geredet – bis sich viele Nazis in der Bundesrepublik auf ein Mal wieder in hohen Ämtern wiederfanden.

Zur Person

Wolfgang Niedecken wurde 1951 in Köln geboren. Er wuchs in der Südstadt auf. Bevor er als Sänger, Texter und Frontmann der Rockband BAP zur Ikone der Kölner Musikszene mit deutschlandweiter Ausstrahlung aufstieg, kam Niedecken in den 70er Jahren als Maler zu Ansehen mit zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland. Außerdem ist er für sein soziales Engagement bekannt.

Am heutigen 8. Mai, dem 75. Jahrestag der endgültigen Kapitulation des nationalsozialistischen Terrorregimes, erscheint Niedeckens neuer Song „Ruhe vor’m Sturm“. Er ist Teil des neuen, 20. Studio-Albums von BAP, das im Herbst erscheint. (F.O.)

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