Literaturnobelpreis 2020Wofür Lyrikerin Louise Glück ausgezeichnet wurde

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Louise Glück im Jahr 2014

  • Die amerikanische Lyrikerin Louise Glück bekommt den Literaturnobelpreis 2020. Das steht seit Donnerstagmittag fest.
  • Es ist nicht die erste Auszeichnung, die die 77-Jährige erhält. In ihrem Leben ist sie bereits mehrfach mit höchsten Preisen prämiert worden.
  • Was Glück mit ihrer Lyrik schafft und wofür sie nun mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Köln – „The extremes are easy. Only / the middle is a puzzle.“ So heißt es in dem Gedicht „Heaven and Earth“ der amerikanischen Lyrikerin Louise Glück. Sie erhält den Literaturnobelpreis 2020.

Das begründet die Schwedische Akademie mit Glücks „unverwechselbarer poetischer Stimme, die mit strenger Schönheit die Existenz des einzelnen Menschen universell macht.“

Viele Preise erhalten

Ihre Gedichtbände, zwölf an der Zahl, sind in englischer Sprache erschienen und in den USA mit hohen und höchsten Auszeichnungen bedacht worden: Mit dem Pulitzerpreis (1993), dem National Book Award für Lyrik (2014) und der National Humanities Medal, die ihr 2015 der damalige amerikanische Präsident Barack Obama verlieh. 2003 wurde sie zur United States Poet Laureate, zur Dichterin der Vereinigten Staaten ernannt.

In Deutschland ist Louise Glück nur kleinen Kreisen bekannt. Die Berliner Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ druckte ihre Gedichte, der Luchterhand Verlag brachte zwei Gedichtbände heraus, „Averno“ (2007) und „Wilde Iris“ (2008), übersetzt ins Deutsche von Ulrike Draesner. Diese Bücher sind derzeit vergriffen. Was sich bald ändern sollte.

Grenzbereiche des Denkens und Wahrnehmens

Denn Louise Glück ist eine Autorin, die mit ihren Gedichten Himmel und Erde in Bewegung setzt. Sie erkundet die Grenzbereiche unseres Denkens und Wahrnehmens, und dringt dabei zu den ersten und letzten Fragen vor: zu Leben und Tod, Ursprung und Ende, Licht und Dunkelheit, zu Gewalt und Liebe, Mühsal und Freude. Antworten darf man von ihr nicht erwarten.

Wohl aber existenzielle, bisweilen ins Religiöse reichende Auskünfte, die durch eine Sprache beglaubigt werden, die klarsichtig und einfach ist, gütig und freimütig, lebendig und manchmal mit ein wenig schwarzem Humor. Ulrike Draesner hat das mit ihren Übersetzungen auf einer poetischen Gehirnwellenlänge mit Louise Glück nachvollzogen.

Unterschied zwischen Paradies und Welt

Religiös bei Glück ist zum Beispiel das Bild des Paradieses. Die Welt, in der wir leben, unterscheidet sich Louise Glück zufolge vom Paradies, aus dem wir vertrieben wurden – durch die Lektion, die die Welt uns erteilt.

Welche Lektion das ist, sagen die Gedichte nicht. Aber sie beschreiben die Welt so, dass wir ahnen können, worum es geht: Um die Natur, in der sie in ihren Gedichten findet, was andere in der Kunst und in der Liebe fanden. Diese Natur lernen wir in Glücks Gedichten als im Anthropozän besonders schützenswert kennen, weil sie eben vom Menschen gemacht ist, als schöne, aber vergängliche und an sich selbst zugrunde gehen könnende Welt. Es ist kein Zufall, dass so viele Gedichte Glücks Blumen und Bäume, Pflanzen und Jahreszeiten zum Sprechen bringen.

Mythen der Antike

Neben der Religion steht der antike Mythos. Darauf weist schon der Titel des Lyrikbands „Averno“ hin. Avernus ist ein Kratersee in der Nähe von Neapel, an dem der Eingang zur Unterwelt vermutet wurde. Ein loser Zyklus von Gedichten widmet sich dem Schicksal von Persephone. Als junge Frau wurde sie von Hades entführt und in die Unterwelt gebracht.

Ihrer Mutter Demeter gelang es, die Tochter zeitweise wieder auf die Erde zurückzuführen. Louise Glück macht aus der Überlieferung einen Unschulds- und Hingabemythos. Persephone wird in ihren Gedichten zu einer Zwangsmigrantin, zu einer Wanderin zwischen den Welten, keiner zugehörig und in keiner daheim. Ein Opfer und eine Komplizin von Hades, der ihr „Tod, Ehemann, Gott, Fremder“ ist. Damit offenbart das Gedicht eine tiefere Wahrheit: Persephone kennt den Tod und ihre Mutter, sie weiß um Himmel und Hölle. 

Sanftmütige Klarheit

„Die Extreme sind einfach. Lediglich die Mitte ist ein Rätsel“: Diese Verse von Louise Glück, in Ulrike Draesners Übersetzung, sind der Glutkern ihres Schreibens. Sie zwingt uns Klarheit auf, sanftmütig, aber mit dem festen Ziel vor Augen, uns zu sagen, wo wir stehen. Sie jätet Mut und streut Einsicht. Ihre Sprache erinnert an T.S. Eliots Geistreichtum, an den Vermächtnisstil des späten Brecht. „Sculptures of belief“, Glaubensskulpturen, so hat man ihre Lyrik genannt.

Im Weltatlas der Poesie sind ihre Bücher keine Routenplaner, sondern poetische Diagramme, sprachliche Lebensfreudezeichen trotz oder vielleicht wegen aller Leid-Erfahrungen, die sie auch autobiografisch getönt beschreibt. „risk joy // in the raw wind of the new world“ – „wagt Freude / im rauen Wind der neuen Welt“: Louise Glücks Vers ist wie hineingesprochen in eine Zeit, die ein anderes, ein pandemisch bestimmtes Tempo eingeschlagen hat und dazu einlädt, sich auf eine Königsgattung der Kunst zu besinnen: auf die Lyrik.

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Der Nobelpreis an Louise Glück, die 1943 in New York geboren wurde, in Cambridge, Massachusetts, lebt und als Professorin für Englisch an der Yale University lehrt, ist eine mehrfache Überraschung und ein Glücksereignis.

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