Lorose KellerVergöttert und verschachert

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  • Die Geschichte einer Frau, die oft scheitert, aber weitermacht.

Köln – Lorose Keller irrt durch ihr Zimmer im Weimarer Künstleraltenheim, sie raucht, tanzt, rezitiert, stöhnt, feixt und erzählt von einer Welt, die ihr die kalte Schulter zeigt. Lore in Weimar, so könnte man doch beginnen, sagt sie.

Sie könnte vor dem Staatstheater die Iphigenie geben. Oder eine Schlingensief-Parodie? Schlingensief sei ein Seelenverwandter gewesen, sie habe ihn angeschrieben, er habe nie geantwortet, wie Gründgens, Zadek, wie Hunderte andere.

„Ich habe keinen Pfennig mehr“

Nach sieben Minuten ist sie bei Federico Fellini. Er hatte sie 1989 für seinen letzten Film engagiert.  Der „Express“ titelte: „Fellini holt Nymphomanin vom Eigelstein aus der Gosse.“ Sie war ein kleiner Star.  „Die Stimme des Mondes“, Keller spielte eine verarmte Gräfin, Edelnutte, ihre Tanzszene wurde in Cannes gezeigt. Sie war mit blutender Nase  über den roten Teppich gewankt. Auf dem Weg zur Premiere ausgeraubt und brutal verprügelt.  Die Nebenrolle ist Lebensrolle.  „Dabei war ich die geborene Großschauspielerin.“

Hinter der sehr kleinen Lorose Keller hängt ein Porträt von ihr, das Fellinis Bruder gemalt hat. Es zeigt die melancholische Diva. Die Großschauspielerin. Sie will es verkaufen, sie habe keinen Pfennig, sagt sie. Sie will zurück nach Köln und kann sich keinen Umzugswagen leisten. „Nach über 60 Jahren Kulturarbeit kriege ich knapp 1000 Euro Rente.“  Sie will die Anerkennung, die sie nie bekam. Sie sagt, das Fellini-Porträt könnte 200000 Euro bringen. 10000 wären auch okay. Oder  3000.  Sie will in Würde ihre letzten Jahre in Köln verbringen, der Stadt ihrer besten Jahre. Sie hat schon im Obdachlosenasyl in der Annostraße angerufen. Die nähmen allerdings nur Männer.

In Weimar ist sie gelandet, weil ihr eine Bekannte im ägyptischen Exil von  einem Weimarer Seniorenheim für Künstler erzählte. „Es gibt aber kaum noch Künstler hier – außer mir.“ In Ägypten sucht sie nach Jahren im Kölner Abseits Erleuchtung,  mit Unterbrechungen ist sie über 20 Jahre in Kairo und der Oase Siwa. 2006 inszeniert sie in Köln ihren Tod und lässt sich im Sarg durch die Stadt tragen. Ihr ist klar, dass sie nicht mehr lange leben würde. Aber sie spürt: „Die Welt will noch was von mir.“ In Ägypten ist sie im vergangenen Jahr dreimal vergewaltigt worden. Sie zeigt Anzeigen: Es sind keine Hirngespinste. Sie ist, wenn sie die Splitter ihres Künstlerlebens zusammensetzt, sehr klar. Vergewaltigt worden ist sie oft. Sie habe es hingenommen. Sie glaubt, dass sie dem Schicksal ausgeliefert ist. Jede Niederlage habe einen Sinn. „Die Film- und Theaterszene ist eine kaputte Szene. Ich kenne so viele, die sich hochgeschlafen haben. So viele Regisseure, Dramaturgen, die ihre Untergebenen ausgenutzt haben."

Ihre Augen blitzen. Ihre Stimme ist gewaltig. Beim Kaffeeeinschenken zittern die Finger. Die helfende Hand schiebt sie weg. Sie sei nicht 83, sagt sie, das Alter sei eine Erfindung des Markts. „Das ist was für Idioten.“  Ihr Leitsatz ist Marc Aurels Aphorismus: Die Gedanken färben die Seele des Menschen. Sie hat immer jeden Gedanken zugelassen. In jedem, sagt sie, stecke Gandhi und Hitler, Bettlerin und Adelige, Keusche und Nymphe.  Die Leute hätten sie immer auf Fellini reduziert – und auf Sex. In ihrer Biografie schreibt sie, sie habe mit Hunderten Männern geschlafen. Nirgends lasse sich schneller Menschenkenntnis erwerben als im Bett. Ihr Buch ist voll von solchen Sätzen. Künstler und Millionäre, mit denen sie schlief, hätten sie vergöttert und  flugs irgendwo verschachert.

Aktrice, Schriftstellerin, Malerin

Lorose Keller wurde am 28. Juli 1932 als Lore Keller in Iserlohn geboren und wuchs in Bayreuth auf. Sie studierte in London und München Anglistik und absolvierte eine Schauspiel- und Gesangsausbildung in Hamburg. Ab 1970 lebte sie in Köln und zuletzt in Weimar. Nun kehrt sie nach Köln zurück. Sie spielte in verschiedenen Filmen mit, unter anderem in Federico Fellinis „Die Stimme des Mondes“ (1990). Sie ist zudem als Autorin und Malerin tätig. (ksta)

Für den „Express“ ist sie Muse oder Nymphe, für die Theaterdirektoren ein Paradiesvogel,  gut, ja, aber. Wenn, ja, wenn. Ein Intendant sagt ihr, er suche eine Darstellerin mit zwei Beinen, sie habe mindestens sechs. Einer sagt, sie sei eine Großschauspielerin, sein Ensemble in Heilbronn würde sie sprengen. Die Kulturszene  sei so piefig wie ein Versicherungsbüro, immer gehe es ums Vögeln, fast immer ums Angepasstsein. Sie lebt seit je ohne Wenn und Aber. Drei Jahre nach Fellini sitzt sie mit ihrem Hausrat auf einer Kölner Parkbank, tippt ihre Memoiren, nebenbei demonstriert sie hunger- streikend gegen die Wohnungsnot. Sie ist obdachlos und schreibt Autogramme. Man kennt sie. Mit der Performance hat sie Erfolg: Sie bekommt eine kleine Wohnung. Jetzt ist sie 83 und kehrt ohne feste Wohnung  zurück nach Köln.

Sie ist süchtig nach den Schattenseiten des Lebens. Ihre Biografie hat sie „Hochzeit mit Luzifer“ genannt.  Alles Skurrile, Abartige zieht sie an. Sie will Außenseiterin sein und in die Fresse kriegen. Das kriegt sie seit Jahrzehnten so brutal, dass es ein Wunder ist, sie so zu sehen: kämpferisch, die Augen eines Kindes. Ihr Mann Omar, 30 Jahre jünger, den sie mit 60 in Jerusalem kennenlernt, betrügt sie um Geld und missbraucht sie. Sie will ihn mit Liebe bekehren. Je mehr die Gesellschaft ihre Sinnlichkeit verachtet, desto mehr sucht sie das Übersinnliche.

Dass sie Künstlerin werden will, ist früh klar. Lore Keller wächst in Bayreuth auf, ihr Vater ist Oberbaurat. Als Hitler kommt, zählt der Vater zu denen, die im Dunstkreis des Führers wandeln.   In der Abi-Zeitung wird sie der weibliche Goethe genannt.  Sie spielt Geige, Klavier, singt, schauspielert, schreibt. Alles beachtlich. Sie hat viel mehr  als sechs Beine und alle ständig in Bewegung. Nach der Schule und ersten Schauspielversuchen trampt sie durch Italien. Sie schlägt sich ohne Geld mit wechselnden Männern durch. Zurück in Deutschland wird sie von einem Millionärssohn schwanger und lässt bei einem HNO-Arzt abtreiben – eine Sepsis wird im letzten Moment erkannt.

In Hamburg besteht sie die Aufnahmeprüfungen an der Schauspielschule der Kammerspiele und an der staatlichen Hochschule für Musik; sie lernt den Maler Mike Rose kennen, der sich gebärdet wie Klaus Kinski und Picasso nacheifert. Sie wird schwanger, treibt ab, bei der nächsten Schwangerschaft scheitert die Abtreibung trotz Rotweinexzessen und Chinintabletten. Sie heiratet den Hochstapler, drei Jahre versuchen sie es als Familie. Mit Tochter Maya Rose hat sie sich vor ein paar Tagen in Weimar gestritten, bis sie kollabierte. Verdacht auf Herzinfarkt, Intensivstation. Sie sollte drei Wochen zur Kontrolle im Hospital bleiben und flieht am nächsten Tag. Ihr Handrücken schimmert lila-braun  – von der Kanüle. „Maya wirft mir bis heute vor, dass ich nie für sie da war.“ Ihre Bilder, die in ihrem Zimmer hängen, zeigen  Totenköpfe, Seelen, die vom Leben abgespalten sind.  „Ich hatte in meinem Leben nie Angst“, sagt sie am Fenster stehend und bläst den Zigarettenrauch in die Winterluft.

Sie kennt den Knast

Ab 1959 klappert sie deutsche Provinztheater ab. In Bamberg ist ein ehemaliger SS-Sadist Regisseur – nachdem er sie bei einer Probe zusammenstaucht, rammt sie sich ein Messer in die Brust. Ein paar Tage später gelingt die Premiere. Maya liegt im Ställchen eingesperrt zu Hause, „wie das damals so üblich war“, und schreit. Wenig später ist sie wieder schwanger, erneut versucht sie abzutreiben, wieder bleibt das Kind im Bauch. Sie zieht mit zwei Kleinkindern von Theater zu Theater. Wechselnde Männer, Hunderte Bewerbungen an die großen Häuser. Da sieht sie sich, da sehen sie viele. Wenn sie auf Antworten hofft, erhält sie keine.  Sie hadert mit ihren Kindern, sie betrachtet sie als lästige Anhängsel, die ihre Karriere verhindern. 

Mit Aldi-Tüte in der Hand trippelt die Tausendfüßlerin durch Weimar. Sie kann kaum noch sehen. Der Regen friert. Die Szene vor dem Staatstheater ist ihr wichtig. Ihr schwindelt, sie hat noch nicht gefrühstückt und nicht geraucht. „Ich habe heute geträumt, dass ich mich mit meiner Tochter versöhne. Wir haben uns umarmt“, sagt sie. Als sie sich in ihrem schwarzen Gewand auf eine Bank setzt und pafft, starren Touristen sie an. Chinesen wollen ein Foto machen. Ihre meckernden Stimmübungen hallen über den Platz. Die Leute lachen. Sie kann noch fast jede ihrer 200 Rollen auswendig.

Vor dem Denkmal  von Schiller und Goethe gibt sie die Iphigenie, mahnend und voller Pathos, ein Mann bleibt stehen und sagt: „Das ist gut!“ Der Mann heißt Thomas Eckardt, er ist seit 39 Jahren Bühnendekorateur am Staatstheater.  Sie strahlt, als Eckardt sagt: „So eine wie Sie bräuchten wir! Vielleicht sehen wir uns auf der Bühne wieder. Ich spreche mit dem Intendanten!“ Sie drückt ihm ihre Visitenkarte in die Hand, erzählt schnell noch von ihren Bildern, die ins Museum, ihren Büchern, die wieder gelesen werden müssten. Sie redet, als gehe es um alles. Sie  wird nichts hören.

Sie fingert eine Zigarette aus der Packung, der Rauch verliert sich in Weimar, dieser vergangenen Stadt mit seinen zu breiten Straßen und den zu großen, zu getünchten Häusern, diesem Schattenreich für Touristen. Sie sagt: „Weimar ist ein Gefängnis. Ich hasse es.“ Sie kennt den Knast. 1979, als sie auf eine Bande hereinfällt und als Fluchthelferin in die DDR reist, wird sie inhaftiert. Sie schreibt den Roman „Deutsch-Deutsches Verhör“ über die Zeit im Gefängnis und die DDR. Sie prophezeit darin den Untergang des Überwachungsstaats. Sie erhält sehr gute Kritiken. Sie kann sehr gut schreiben, wie sie sehr gut schauspielern kann. Sie will auch singen und malen, Aktionskunst machen und die Welt retten.

Verrückt sind Sie nicht. Es ist nur so viel in Ihrem Kopf.

Nach einem Jahr als Chorsängerin am Mainzer Theater kommt sie 1969 nach Köln. Sie klappert die Theater ab, keiner will sie. Zu auffällig ihr Typ, das hört sie oft. Sie arbeitet als Putzfrau, Grabrednerin, Nachtportier und Schriftstellerin, immer wieder geht sie stempeln, fährt auf Bahntoiletten eingeschlossen zu Vorstellungsgesprächen,  klaut exotische Früchte, Fisch und Pasteten, weil sie ihren Kindern was bieten will. Sie erhält einen Job im Opernchor und gibt sich zufrieden, die Kinder sollen im Mittelpunkt stehen. In der zweiten Spielzeit kündigt sie. Vorher steht sie lange im achten Stock des Chorsaals und überlegt, zu springen. Sie lebt an der Neusser Straße und am Eigelstein, bis sie günstig eine 250-Quadratmeter-Dachgeschosswohnung mit Blick aufs Stadtpanorama am Hansaring ergattert. Sie gehört zur alternativen Künstlerszene, macht Ausstellungen und Happenings, zieht mit Mascha Blankenburg und Alice Schwarzer um die Häuser. Sie sagt: „Das war meine beste Zeit.“

1975 ist sie mal wieder arbeitslos, als sie im Furor eine Endzeitvision schreibt. Sie glaubt, dass Religion und Technik die Aufklärung zunichtemachen, den Menschen betrachtet sie nur mehr als Computer, ferngesteuert. Sie wähnt sich als Seherin und Retterin. Sie spricht mit Gott und schreibt tagelang durch, aufgeputscht von Wein und Hallo-wach-Tabletten. Sie versucht sich umzubringen, mit 60 Schlaftabletten und einer Pulle Whiskey. Eine Freundin findet sie, blau angelaufen, kurz vorm Exitus. Sie kommt in die Klapse. Die Utopie „Apokalypsaia“, die sie im Stasi-Knast fertigschreibt, hält sie für ihr bestes Buch. Die Utopie sei viel besser als die Gedichte, die Dieter Wellershoff in einem Vorwort hymnisch lobt. Keiner rezensiert das Buch. Auch einige Freunde halten sie jetzt für verrückt. Sie wird noch zweimal in der Anstalt landen, aber die Ärzte werden ihr immer wieder bestätigen: Verrückt sind Sie nicht. Es ist nur so viel in Ihrem Kopf. Aber wohin damit?

Sie schreibt einem „Tatort“-Schauspieler aus Weimar, Regisseuren und Intendanten, Alice Schwarzer und anderen ehemaligen „Freunden“ aus Köln. Sie erhält keine Antwort. Sie sagt: „Es ist seltsam, dass so viele nichts mehr von einem wissen wollen.“

Sie hat für Ende Januar im Altenheim gekündigt, kommt aber nicht weg. Sie bittet um Aufschub. Sie stellt Aufrufe auf Youtube, in denen sie ihre Bilder anbietet und eine Bleibe sucht.  Keiner antwortet. Als sie  Anfang der Woche anruft, hat sie noch kein Zimmer, aber einen Künstler, der sie nach Köln karrt. Am Freitag kommt sie an, ohne Zimmer, mit tausend Ideen.  Sie könnte als nackter Engel vor dem Dom performen, das fände sie gut,  „auch wegen der Silvesternacht“. Sobald sie ein Dach über dem Kopf hat, will sie loslegen.

Am 3. November 2016 ist Lorose Keller in Köln gestorben.

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