Luft in der KunstWarum man im Museum den Atem anhalten sollte

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Bonn – So muss wohl wahre Liebe aussehen oder auch nur innige Verzweiflung. Ein Mann und eine Frau pressen die offenen Münder aufeinander, sie atmet seinen Atem und er den ihren, wie Ertrinkende, die einander retten wollen. Die Nasenlöcher haben sich die beiden sicherheitshalber mit Zigarettenfiltern verstopft, an ihren Kehlen nehmen Mikrofone jedes Röcheln und Ächzen auf. Wie lange es wohl dauert, bis der zwischen ihnen ausgetauschten Atemluft der Sauerstoff ausgeht?

Auch die Luft wurde in der Moderne zum künstlerischen Material

Zweimal haben Marina Abramovic und Ulay diese berühmte Liebesszene aufgeführt. Beim ersten Mal, 1977 in Belgrad, hielten sie 19 Minuten durch, im folgenden Jahr in Amsterdam hatten sie bereits nach 15 Minuten keine Puste mehr. Allerdings lässt sich die Besessenheit, mit der das Künstlerpaar seine gegenseitige Abhängigkeit hier inszenierte, ohnehin nicht mit der Stoppuhr messen.

Die Symbolik sprengt jeden Rahmen der Vernunft: Zwei Menschen schenken einander ihren Lebensatem, bis er verbraucht ist und vom Leben beinahe nichts mehr bleibt.

Als Barbara Scheuermann für das Bonner Kunstmuseum die Ausstellung „Welt in der Schwebe“ plante, dachte noch niemand an Aerosole, Corona oder tödliche Tröpfcheninfektionen.

Die Kuratorin wollte zeigen, wie moderne Künstler die Luft als Material entdeckten und Formen für sie fanden, die mit den Himmels- und Wolkenbildern des 19. Jahrhunderts nicht mehr viel zu tun hatten. Dann kam die Corona-Pandemie, und nun blicken alle mit anderen Augen auf die Luft, die wir zum Atmen brauchen.

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Man kann gewiss enttäuscht sein, dass Scheuermann ihrem Plan treu geblieben ist und die Ausstellung nicht auf Pandemie getrimmt hat. Als konkretes Lebens- und Sterbenselixier kommt die Luft in Bonn im Grunde nur bei Abramovic/Ulay vor und in den „Pollution Pods“ von Michael Pinsky.

In dessen begehbaren Zelten wabert die nachgebildete Atemluft aus fünf Großstädten der Welt, so dass man am eigenen Leib erfahren kann, wie sich Feinstaub im Delhi anfühlt.

Stattdessen sehen wir künstlerische Arbeiten, die sich mit Volumen, Gewicht oder Geldwert der Luft befassen, in denen die Leere als Fülle inszeniert wird oder die Luft ganz klassisch ein Medium für die Unfassbarkeit des Lebens ist. Allerdings merkt man dann ganz schnell, dass die Luft auch ohne Corona-Viren eine faszinierende Sache ist.

Edith Kollath lässt gläserne Luftblasen mit lautem Klirren platzen

Gleich zu Beginn der Ausstellung steht man vor einem leeren Podest in einem leeren Raum. Aha, denkt man sich, hier wird die Luft „sichtbar“ gemacht, indem man sie in Kunst verwandelt. Aber dann schießt aus dem von Steffi Lindner und Lyoudmila Milanova arrangierten Podest eine Nebel-Fontäne in die Höhe, liegt kurz als Wolke in der Luft und verdunstet vor unseren Augen.

Auch die Luft hat ihre Aggregatzustände, scheint manchmal geradezu fassbar und ist oftmals erfüllt von Poesie. So fängt Rikuo Ueda die Schrift des Winds mit zitternden Schreibgeräten ein, Charlotte Charbonnel lässt Belüftungsrohre singen und Edith Kollath gläserne Luftblasen mit lautem Klirren platzen, Otto Pienes stachelige Riesenballons füllen einen Raum und Judy Chicago entfacht in der Wüste farbigen Rauch, um gegen den Ewigkeitsgestus männlicher Landschaftskünstler zu opponieren.

Wer es handfester mag, wird etwa bei Yoko Ono fündig; sie verkauft Luftkugeln in Kaugummiautomaten. Und Martin Werthmann bläst in eine Maschine, die das Kohlendioxid aus seinem Atem zieht und in Kohlenstoff verarbeitet; daraus wird dann ein Diamant gepresst. Leider rechnet sich das Transformations-Verfahren nicht. Ein Besuch der Bonner Luftnummer hingegen schon.

„Welt in der Schwebe“, Kunstmuseum Bonn, bis 19. Juni 2022. Katalog: 25 Euro.

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