Serie „Traum Reisen“Von der Autobahn vor der Tür in die Weiten Kanadas

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Blick auf Quebec und Sankt-Lorenz-Strom

  • In diesem Sommer ist alles anders. Urlaub, wie wir ihn kannten, gibt es nicht.
  • Deshalb haben wir Kölner Autorinnen und Autoren gebeten, für uns auf „Traum Reise“ zu gehen.
  • Ulrike Anna Bleier schreibt von Kanada, Quebec, dem Sankt-Lorenz-Strom. Und berichtet lebhaft von einem Aufenthalt dort.

Ich sitze am Hafen und schaue in die Weite. Sie ist grenzenlos, zumindest für das menschliche Auge. Der Sankt-Lorenz-Strom fließt von hier aus auf 660 Kilometern durch das Land, bevor er ins offene Meer übergeht. Trotz dieser immensen Entfernung zum Ozean schmeckt das Wasser in Quebec nach Meersalz.

Grenzenlose Weite ist genau das, was ich brauche, um meinen Roman zu Ende zu schreiben. Diese Vorstellung von Blau und Salz und etwas Allumfassendem war der Grund, warum ich mich für das zweimonatige Residenzstipendium in Quebec beworben habe.

Grenzenlose Weite und Blau und Salz und etwas Allumfassendes – so stelle ich mir auch den fertigen Roman vor, an dem ich gerade schreibe. Das Desparate beim Schreiben ist, dass das, was man schreibt, mitunter nicht dem entspricht, was auf dem Bildschirm erscheint. Blau ist plötzlich nicht mehr Blau, das Salz ist aus und die grenzenlose Weite ist hinter den einzelnen Schritten verschwunden, die man gehen musste, um den Hafen zu erreichen. Ich sagte mir, wenn ich das Stipendium bekomme, sehe ich jeden Tag die grenzenlose Weite, in der sich das Blau des Himmels reflektiert, ich bade im nach Salzwasser schmeckenden Sankt-Lorenz-Strom und das Allumfassende ist zum Greifen nah. Und all das geht einfach über in meinen Roman, ich muss nichts tun als schauen und schreiben und schreiben und schauen.

Gammawellen am Sankt-Lorenz-Strom

Ich sitze am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms und schaue schon seit einiger Zeit in die Weite und warte darauf, dass das, was ich sehe, irgendwie in mein Inneres über geht. Dass ich es erfasse. Dass ich mich in meinem Gegenüber – der unendlichen Weite – auflöse. Aber das passiert nicht. Eigentlich weiß ich auch gar nicht genau, wie das gehen soll. Ich dachte, es passiert einfach so, ohne dass ich es so genau wissen muss. Vielleicht würden Gammawellen eine Rolle dabei spielen – das sind dieselben, die auch beim Träumen aktiv werden. Aber das war offenbar ein Irrtum. So muss ich bis auf weiteres die Person bleiben, die ich bin, eingesperrt in der Person, die ich auch bin und von der ich keine Ahnung habe, wie ich ihr entkommen soll. Auch beim Schreiben passiert nichts. Das, was ich schreiben möchte, bleibt ungeschrieben, bleibt Teil der grenzenlosen Weite, in der sich das Blau des Himmels reflektiert.

Nie hätte ich damit gerechnet, dass ich jemals eingeladen würde, ausgerechnet nach Kanada zu reisen, um dort zu schreiben und zu arbeiten. Kanada ist das zweitgrößte Land der Erde, es ist viel zu groß für mich; dabei habe ich, seit ich denken kann, die Vorstellung gehabt, dass es diesen einen Punkt gibt, von dem aus alles immer größer und weiter wird und ich immer mehr sehe und verstehe, bis ich irgendwann alles verstanden und gesehen habe und wieder klein und durchsichtig werden kann und als kompostierbarer Zellhaufen im Garten hinter unserem Haus im Litzlweg 2 liegen werde. Von dort aus bin ich zum ersten Mal nach Kanada gereist. Ich hatte eine Breze, eine Tafel Schokolade und eine Caprisonne in meinen Kindergartenrucksack gepackt, ich wusste schließlich, Kanada lag nicht um die Ecke. Es würde eine Zeit dauern, bis ich ankam. Nach mehreren Stunden Wanderung konnte ich das Ortsschild von Großberg erkennen. Großberg kannte ich, wir fuhren öfter hin, weil es dort eine Tankstelle gab. Ich war etwas enttäuscht, ich hatte mir ausgerechnet, dass ich schon weiter war. Immerhin schaffte ich es noch rechtzeitig zum Abendessen nach Hause.

Dinge, die alles miteinander verbinden

Ich verlasse den Hafen von Quebec und gehe zurück in mein Appartement. Ich wohne gleich hinter dem Maison de la Littérature, das in einer umgebauten Methodistenkirche untergebracht ist. Ein beeindruckendes Gebäude mit einer riesigen, dreistöckigen Bibliothek, lichtdurchflutet, mit fahrbaren Bücherregalen in weißem Teakholz, einer weißen Wendeltreppe im sachlich-kompakten Bauhausstil. Wäre ich objektophil, würde ich der Treppe einen Heiratsantrag machen. Das Literaturhaus ist ein Ort zum Schreiben, Lesen, Leute treffen und zum Dabeisein, ein Ort für gesprochene und geschriebene Literatur, für Autor:innen und Wissenschaftler:innen und für alle Menschen, die in Quebec leben. Die Treppe verbindet alles miteinander. Ich liebe Dinge, die alles miteinander verbinden, ich möchte wie sie sein.

162 Meter entfernt von dem Haus im Litzlweg 2 war es die Autobahn, die alles miteinander verband. Ihr Grundrauschen war Tag und Nacht zu hören, aber das störte mich nicht, im Gegenteil – die Autobahn war mein Tor zur Welt. Ohne diese Autobahn wäre ich nie bis nach Kanada gekommen, da bin ich sicher. Als Kind saß ich auf der 162 Meter entfernten Böschung und winkte den Autos und Lkw hinterher. Besonders die Lastwagen hatten es mir angetan. Manche Fahrer winkten zurück, dann war ich glücklich, denn sie hatten meinen Blick erwidert und so fuhr ein Stück von mir mit ihnen mit, nach Italien, Frankreich, Portugal, vielleicht sogar über den Atlantischen Ozean.

Grenzenlose Freiheit in Labrador

Vom Fenster meines Appartements in der Rue Cook aus kann ich in eine andere Wohnung sehen. Selbst wenn ich versuche, nicht hinzusehen, sehe ich in die andere Wohnung hinein. Sie ist sehr sauber und ordentlich. Die Möbel haben gerade Formen und der Boden ist grau, ich glaube, es ist Beton. Waschbeton. Die Bewohner sind nie da. Immer wenn ich in diese Wohnung sehe, beruhige ich mich. Das Chaos in meinem Kopf verschwindet, ich schreibe bis Mitternacht an meinem Roman, und bevor ich schlafen gehe, lösche ich alles wieder. Die grenzenlose Weite und das Allumfassende gehen einander stur aus dem Weg. Ich träume von der Treppe, dem grauen Beton und vom Sankt-Lorenz-Strom. Und davon, was Camille, die Kellnerin der Creperie in der Rue de la Reine, mir geraten hat: Fahr nach Labrador und finde dort unberührtes Land, das niemandem gehört. Jeder darf sich davon nehmen, soviel er braucht, um sich ein Haus zu bauen.

Als ich 14 war, wechselte ich von der Autobahnböschung hinter unserem Haus zur Autobahnauffahrt und trampte nach Ingolstadt. In Ingolstadt ging ich in den Stadtpark, der an eine Mauer grenzte. Im Gras saß ein Junge und spielte Gitarre. Ich trampte wieder nach Hause und von da an wusste ich, es gab einen Weg, eines Tages das Haus im Litzlweg 2 zu verlassen, um die Welt zu sehen: Grenzenlose Weite und Blau und Salz und etwas Allumfassendes.

Haus mit Wendeltreppe

Ich fahre nach Labrador, um das unberührte Land zu betreten, bevor es ein anderer tut. Es ist grün und moosig, rote Felsen leuchten in der Ferne, und weil es geregnet hat, werden meine Wanderschuhe nass. Die Luft ist klar, weil die Luft eigentlich immer klar ist, wenn man unberührtes Land betritt. Kein Grundrauschen einer Autobahn ist zu hören. Kein Hund bellt in der Ferne. Hier, denke ich, könnte ich mein Haus hinbauen.

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Das Haus würde ich sehr schön einrichten. Weiße Möbel, fahrbare Regale, der Boden aus glänzendem Waschbeton. Eine Wendeltreppe im Bauhaus-Stil (sie hätte „Ja!“ gesagt). Im Gras säße ein Junge und spielte Gitarre. Ich selbst wäre nie da, ich müsste mir ja weiter die Welt anschauen. Doch zu wissen, dass in dieser grenzenlosen Freiheit Kanadas mein Haus stünde, würde mich beruhigen. Die Gammawellen würden vor Freude im Dreieck springen. Ich müsste nicht mehr in die Wohnung gegenüber starren und gegen Mitternacht alles löschen, was ich geschrieben habe.

Zur Serie

In diesem Sommer ist alles anders. Urlaub, wie wir ihn kannten, gibt es nicht. Die Unsicherheit reist immer mit. Viele bleiben da lieber gleich zu Hause. In unserer Fantasie können wir jedoch reisen, wohin wir wollen. Wir haben Kölner Autorinnen und Autoren gebeten, für uns auf „Traum Reise“ zu gehen.

Ulrike Anna Bleier lebt in Köln und in der Oberpfalz. Ihr Debütroman „Schwimmerbecken“ stand 2017 auf der Hotlist der zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen. 2018 ist ihr zweiter Roman „Bushaltestelle“ erschienen. Für ihre Kurzgeschichten und Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt für ihr Romanprojekt „Spukhafte Fernwirkung“ mit dem Dieter-Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln. 2021 ist sie als Writer-in-Residence zu Gast im Maison de la Littérature de Quebec, Kanada. www.bleier-online.de

Um die Wahrheit zu sagen, ich war bisher weder in Quebec noch in Labrador. Wegen der Corona-Krise ist mein Aufenthalt auf nächstes Jahr verschoben. Stattdessen war ich mal wieder im Litzlweg 2. Auf der Autobahn war ziemlich was los, wie immer. Fast so wie am Hafen von Quebec, wo die Ozeanschiffe ankern und der Sankt-Lorenz-Strom das Landesinnere verlässt und wie durch einen Trichter dem Atlantischen Ozean entgegenfließt, hunderte von Meilen weit. Wo ich noch immer sitze und sehe, wie alles weiter und größer wird, wie auch in mir alles weiter und größer wird. Wo das Flusswasser nach Meerwasser schmeckt und ich mich frage, wie es sein kann, dass das Wasser des Sankt-Lorenz-Stroms nach Salz schmeckt, wenn der Fluss vom Landesinneren ins Meer fließt und nicht andersherum.

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