Zeugin vom NiederrheinDas System von Folter und Terror der Colonia Dignidad überlebt

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50 Jahre in den Fängen von Paul Schäfer, davon 37 Jahre in Chile: Gudrun Müller lebt heute am Niederrhein.

50 Jahre in den Fängen von Paul Schäfer, davon 37 Jahre in Chile: Gudrun Müller lebt heute am Niederrhein.

  • Zeitzeugin Gudrun Müller vom Niederrhein erzählt von ihrem Leidensweg in der Sekte.
  • Sektengründer Paul Schäfer folgte sie 1955 nach Siegburg.
  • Müller berichtet detailliert von dem harten Alltag in der Kolonie.
  • Hopp, der Mann, der Gudrun Müller das alles angetan haben soll, bestreitet die Vorwürfe vehement.

Man hat sie zusammengeschlagen, mit Elektroschocks gefoltert, um Gedächtnislücken hervorzurufen. Sie sollte sich an die Einzelheiten ihres Leidenswegs nicht mehr erinnern können. Man hat sie 37 Jahre lang gezwungen, Medikamente zu schlucken. Darunter Melleril, das bei Menschen mit Psychosen gegen Angstzustände hilft – und vermutlich Psychopharmaka. „Es grenzt an ein Wunder, dass ich das alles überlebt habe. Mein Wolfgang hat es leider nicht geschafft.“

Gudrun Müller sitzt in ihrem kleinen Zimmer in einem Altenheim irgendwo am Niederrhein. Wo genau, muss geheimbleiben, weil sie um ihr Leben fürchtet. „Die haben immer noch Macht und Einfluss“, sagt sie. Die 74-Jährige ist eine der wenigen Zeitzeugen, die es überhaupt wagen, den Mund aufzumachen. Zu berichten von der Terrorherrschaft des Paul Schäfer in der Colonia Dignidad, der „Kolonie der Würde“, wie sie von dem Sektengründer voller Zynismus genannt wurde. Gudrun Müller hat nichts mehr zu verlieren, weil sie schon alles verloren hat. 50 Jahre ihres Lebens, ihren Mann Wolfgang, der im November 2015 mit 69 Jahren starb. Ebenfalls ein Folteropfer, gedemütigt, geschlagen, mit Medikamenten vollgepumpt, von Schäfer zum ersten Mal mit neun Jahren sexuell missbraucht. Und danach immer wieder. Alles begann 1959, als er „seine Schäfchen“ in Siegburg um sich scharte, bevor er sich 1961 mit 35 Familien nach Chile absetzte. Aus Angst vor den Strafverfolgungsbehörden, die schon damals wegen des Missbrauchverdachts ermittelten.

Gudrun Müller, die aus Graz in Österreich stammt, ist ihm freiwillig gefolgt. So wie fünf ihrer sechs Geschwister. „Wir gehörten einer freikirchlichen Pfingstgemeinde mit sehr strengen Regeln an. Wir durften nicht ins Kino, nicht tanzen, kaum Freundschaften haben. Da kam dieser Missionar mit einen VW Bulli und hat uns angeworben. Das hat uns gefallen. Bei ihm war alles ein bisschen freier.“

1955 folgt sie Paul Schäfer nach Siegburg

Paul Schäfer bei seiner Festnahme am 10. März 2005.

Paul Schäfer bei seiner Festnahme am 10. März 2005.

1955 folgt sie ihm nach Siegburg, als Schäfer dort seine „Private Sociale Mission“ aufbaut. Da ist sie 14 Jahre alt. Dort wird sie später auch Wolfgang kennenlernen, nicht wissend, welches Schicksal er erleidet. Und dass es bis 2001 dauern wird, ehe sie ihn in Chile heiraten kann. Sie selbst sei schon in Siegburg gefoltert worden, in einem Waldstück von Schäfers Männern mit Kabelenden ausgepeitscht, weil sie sich heimlich mit einem Jungen getroffen hatte. „Ich weiß von vielen Dingen nicht mehr, ob sie meiner Erinnerung entspringen oder ich sie nur aus Erzählungen von anderen kenne. Das liegt an den Elektroschocks, mit denen man immer wieder versucht hat, systematisch Teile meines Gedächtnisses auszulöschen.“ Der spätere Sektenarzt Hartmut Hopp kommt 1959 zu Schäfer nach Siegburg. Damals ist er zwölf Jahre alt. Ob er ebenfalls von Schäfer missbraucht wurde, ist unklar.

Gudrun Müller verlässt Deutschland 1968 und geht freiwillig nach Chile. Trotz der Misshandlungen schon in Siegburg. „Das ist schwer zu verstehen, aber ich wollte meine Geschwister und meine Liebe wiedersehen.“ Es war der größte Fehler ihres Lebens. Sie kann sich nicht einmal daran erinnern, dass sie in all den Jahren drei Fluchtversuche unternommen hat. „Beim dritten war ich schon in der österreichischen Botschaft in Santiago, 400 Kilometer von der Kolonie entfernt. Ich weiß bis heute nicht, wie ich es ohne Geld und Reisepass bis dorthin geschafft habe.“ Zwei Männer aus der Colonia Dignidad hätten sie bedrängt, freiwillig zurückzukehren. Sie willigt ein. „Das weiß ich nur aus Erzählungen meiner Schwester, der das berichtet worden ist.“ Ihre große Liebe und späterer Mann Wolfgang will in Chile angeblich nichts mehr von ihr wissen. „Das durfte alles nicht sein. Liebe oder Sex. Das durfte es nicht geben.“ Dass er als Junge immer wieder von Schäfer missbraucht wurde, habe sie erst viel später erfahren.

Der Alltag in der Kolonie

Der Alltag in der Kolonie ist durch harte Arbeit und ein System von Bespitzelungen geprägt. Männer und Frauen leben getrennt, nur wenn Besucher kommen, wird eine große Show inszeniert. Mit Dirndln und Lederhosen, bayrischer Volksmusik. Der chilenische Diktator Pinochet ist nach dem Putsch gegen Salvador Allende im Jahr 1973 mehrfach zu Gast, lässt etliche Regimegegner von Schäfers Schergen foltern und ermorden. Auch CSU-Politiker besuchen die Colonia Dignidad, ein Hochsicherheitstrakt von der Größe des Saarlands, gesichert mit Stacheldraht, Kampfhunden und Bewegungsmeldern.

Der Sektenarzt Hopp sei Teil des Systems gewesen, „ein Täter, kein Opfer“, sagt Gudrun Müller heute. „Hopp war unser Außenminister. Er beherrschte die Sprache, war Schäfer manchmal sogar überlegen. Der hat alles gemacht, er war der Arzt, ein angesehener Mann.“ Die Verabreichung der Medikamente, das Ruhigstellen, die Behandlung mit Elektroschocks, „all das hat er zu verantworten. Aber bislang hat die Staatsanwaltschaft nichts unternommen“.

Hopp, der Mann, der Gudrun Müller das alles angetan haben soll, bestreitet die Vorwürfe vehement. Wie auch andere Ex-Mitglieder der Sekte lebt er mittlerweile in Krefeld. 2011 ist er nach Deutschland gekommen, zusammen mit seiner Frau Dorothea, einst Krankenschwester in dem von ihm geleiteten Hospital der Kolonie. Seitdem beschäftigt sich auch die deutsche Justiz mit dem Arzt und engen Vertrauten Schäfers, wie Hopp von zahlreichen Zeugen bezeichnet wird. Kurz nach der Ausreise beantragten die chilenischen Behörden seine Auslieferung. Der 71-Jährige war 2004, gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Kolonie, in erster Instanz wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung in mehreren Fällen zu fünf Jahren und einem Tag Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Die Bundesrepublik liefert ihre Staatsangehörigen zwar grundsätzlich nicht an den Andenstaat aus, aber die Staatsanwaltschaft Krefeld eröffnete ein eigenes Ermittlungsverfahren. Die vorgeworfenen Taten sind schließlich auch in Deutschland strafbar. Hier lebende Zeugen wurden vernommen sowie Rechtshilfeersuchen an die chilenischen Behörden gestellt, die teilweise bis heute noch nicht beantwortet wurden.

Verurteilung Hopps

Sektenarzt Hopp, hier bei der Verhaftung in Chile, lebt in Krefeld.

Sektenarzt Hopp, hier bei der Verhaftung in Chile, lebt in Krefeld.

Im Januar 2013 indes bestätigte der Oberste Gerichtshof in Santiago die Verurteilung Hopps in dritter Instanz. Die Richter gingen nicht davon aus, dass der Mediziner selbst Jungen sexuell missbraucht hatte. Er sei aber „genauer Kenner der Situation“ gewesen, heißt es in dem Urteil. Hopp widerspricht bis zum heutigen Tag sämtlichen Vorwürfen.

Nach dem rechtskräftigen Urteil beantragten die Chilenen im Frühjahr 2015 erneut seine Auslieferung. Warum dies geschah, ist kaum nachzuvollziehen. Denn natürlich musste die Bundesregierung das Ersuchen wieder ablehnen. Erst Mitte 2015 kam man auf die richtige Idee: Chile beantragte in Deutschland ein sogenanntes Exequatur-Verfahren. Eine Überprüfung also, ob das Urteil gegen Hopp in Deutschland vollstreckt werden kann, ob er die fünf Jahre und einen Tag Gefängnis auch in der Bundesrepublik absitzen kann.

„Wir ermitteln, ob dem in Chile gefällten Urteil ein nach deutschen Maßstäben rechtsstaatliches Verfahren zugrunde lag“, bestätigt der Krefelder Oberstaatsanwalt Axel Stahl: „Beispielsweise ob der Beschuldigte ausreichend Möglichkeiten gehabt hat, Gehör zu finden.“ Der Anwalt des Beschuldigten bestreitet dies: Dem Verfahren sehe er „gelassen entgegen“, erklärte der Strafverteidiger Helfried Roubiček. Denn die Abläufe vor chilenischen Gerichten seien mit der deutschen Strafprozessordnung nicht zu vereinbaren. Beispielsweise seien die Richter nicht unabhängig, die Verfahren nahezu vollständig geheim und „elementare Verteidigungsrechte der Angeklagten beschränkt“. Entscheiden über eine eventuelle Inhaftierung Hopps wird das Landgericht Krefeld, dem die Staatsanwaltschaft die Sache in den kommenden Monaten vorlegen wird.

„Hopp wusste genau, was in der Kolonie geschehen ist“, sagt Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf, die einige der Missbrauchsopfer und Ex-Mitglieder vertritt. „Er war im engsten Führungskreis.“ Seit Jahren begleitet die Anwältin auch die Strafverfahren in Chile. Genau wie das European Center for Constitutional and Human Rights, eine Menschenrechtsorganisation in Berlin, hat sie Hopp im Namen ihrer Mandanten angezeigt. Neben der Beihilfe zum Missbrauch soll der Mediziner verantwortlich dafür sein, dass den Bewohnern der Kolonie jahrzehntelang Psychopharmaka verabreicht wurden, um sie gefügig für die Terrorherrschaft und die fast täglichen Misshandlungen zu machen – wie Zeugen berichten.

„Seit 1985 war Hopp der einzige zugelassene Arzt in der Colonia Dignidad“, erläutert die Anwältin, „selbst wenn er die Medikamente nicht verabreicht hat, musste er ihre Verordnung unterschreiben.“ Außerdem geht es um eine eventuelle Beteiligung des Sektenarztes am Mord in drei Fällen: 1976 waren drei Oppositionelle des Pinochet-Regimes verschwunden, vermutlich wurden sie in der Colonia Dignidad getötet. Im Gegensatz zu den anderen Delikten verjährt Mord in Deutschland nie. „Zu den Tötungen gibt es zahlreiche Unterlagen in Chile, die den deutschen Behörden noch nicht vorliegen“, so Schlagenhauf. Hopp, der auch diese Vorwürfe bestreitet, soll zu den Auserwählten des Sektenchefs gehört haben. Als Kind sei zwar auch er brutal verprügelt worden. Er habe vergeblich versucht zu fliehen. Später jedoch habe er Freiheiten wie kaum ein anderer gehabt. Er durfte heiraten, Medizin studieren, reisen und die Sekte in höchsten chilenischen Kreisen vertreten.

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