Annette Schavan im Interview„Die Kirche könnte viel weiter sein, als sie es ist“

Lesezeit 7 Minuten
CDU-Politikerin Annette Schavan

CDU-Politikerin Annette Schavan

Die CDU-Politikerin spricht im Interview über Maria 2.0, die derzeitige Austrittswelle und rheinischen Katholizismus. Frau Schavan, wie sehr hadern Sie gerade mit Ihrer Kirche? Es klingt vielleicht komisch, aber ich bin in Aufbruchstimmung. Warum denn das? Weil Papst Franziskus für die Transformationsprozesse in dieser Welt ein Impulsgeber mit hoher Autorität ist. Wann hat es das je zuvor gegeben?

Alle Veränderungsversuche in Deutschland wurden bislang von Rom blockiert, etwa die Öffnung der Kommunion für konfessionsverschiedene Paare. Der Papst redet von „Synodalität“, warnt aber vor „synodalen Wegen“, was viele auf den deutschen Reformprozess bezogen haben. Müssen reformwillige Katholikinnen und Katholiken nicht an diesem Papst verzweifeln?

Ich sprach ja von „Impulsen für die Welt“. Ich denke, seine Rede von den Peripherien, von denen aus die Erneuerung geschehen wird, könnte uns weiterhelfen. In den innerkirchlichen Debatten geht es um Veränderungen, die so nicht oder noch nicht auf dem Weg des Papstes liegen. Sein Weg der Veränderung ist uns in Deutschland und eigentlich auch in Europa eher fremd, weil wir finden: Was geht und was nicht geht, muss im Gesetz stehen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wir schreiben Gesetzentwürfe. Er sagt: Geht an die Peripherie! Das ist ein ganz anderer Zugang zu Reformdynamiken. Er ist aber vielleicht auch zu großzügig gegenüber jenen, die keine Veränderung wollen. So oder so: Ich mag Papst Franziskus seit meiner Zeit in Rom. Deshalb bin ich für ein „Verzweifeln an ihm“ die Falsche.

Und für ein Verzweifeln an Ihrer Kirche – als Frau?

Für mich ist die Weltkirche ein faszinierendes Unikat mit großer kultureller, spiritueller und auch politischer Kraft. Veränderungen für uns Frauen in der Kirche werden so überraschend kommen wie der Fall der Mauer in Berlin. Nur wird das leider vermutlich nicht so bald sein.

Sie haben immer gesagt, Sie hätten nie Priesterin werden wollen. Aber vielleicht erste Generalsekretärin der Bischofskonferenz?

Oh je, nein, dazu hätte mir die Geduld mit den Bischöfen gefehlt. Ich wünsche Beate Gilles aber von Herzen alles Gute und finde es bewundernswert, dass sie dazu bereit ist.

Sympathisieren Sie mit Maria 2.0?

Ja. Da sind Frauen unterwegs, die jahrzehntelang in dieser Kirche aktiv waren und denen jetzt der Geduldsfaden reißt.

Ein „Thesenanschlag“ von Maria 2.0 – wie kommt so was in Rom an? Sie waren als Botschafterin beim Vatikan ja auch ein Stück Mittlerin zwischen zwei Welten – und kennen Sie beide. Wie schaut der Vatikan auf die deutsche Kirche?

In Rom sprechen viele mit großer Hochachtung über die deutsche Kirche und deren soziales Engagement, auch auf weltkirchlicher Ebene mit Hilfswerken wie Adveniat und Misereor. Auch das Verhältnis zum Staat gilt vielen als sehr sorgsam balanciert. Aber natürlich gibt es auch die andere Sicht auf Deutschland als das Land der Reformation. Rom und Deutschland – das war immer eine kritische Beziehung. Das ist überhaupt nicht neu.

Zur Person

Annette Schavan, geb. 1955 in Jüchen (Kreis Grevenbroich), war von 2014 bis 2018 deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl. Die CDU-Politikerin war stellvertretende Parteivorsitzende, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg und Bundesministerin für Bildung und Forschung. Von diesem Amt trat sie 2013 nach Aberkennung ihrer Promotion zurück.

Sie studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie und Katholische Theologie. Von 1991 bis 2005 gehörte sie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) an und war elf Jahre lang dessen Vizepräsidentin.

Schavan ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums“ (2021). (jf)

Und, klar, denken viele: Was damals bei Luther geschah, kann sich wiederholen. Am Ende hilft da nur eines: reden, reden, reden. Die Kommunikation zwischen Deutschland und Rom ist derzeit aber nicht gut. Es braucht gute Leute aus Deutschland im Vatikan – auch für die kulturelle und kirchenpolitische Übersetzungsarbeit.

Die derzeitige Austrittswelle ist ein Indiz, dass die Kirche an Bindekraft verliert oder Menschen gar aktiv hinaustreibt. Dabei schien gerade in Köln eine – sagen wir – rheinisch-lockere Bindung an die Kirche geradezu unauflöslich.

Die Selbstverständlichkeit eines volkskirchlich-katholischen Milieus gibt es schon lange nicht mehr. Die gegenwärtige Situation ist deshalb aber weder schlechter noch besser, sondern – anders. Eine Stadtgesellschaft wie die Kölner mit ihren vielen Nationalitäten und religiös-weltanschaulicher Pluralität ist für die Kirche anspruchsvoller als früher, verlangt auch ein anderes Aufeinanderzugehen. Katholisch zu sein ist heute – wie der Soziologe Hans Joas sagt – eine Option. Mehr nicht. Wenn diese Option aber vornehmlich irritierend bis verstörend wirkt, ist die Bereitschaft entsprechend groß, sie beiseite- oder hinter sich zu lassen. Da ich in Neuss aufgewachsen bin, in einem klassisch katholischen Milieu der 60er Jahre, schmerzt mich das ungemein. Es ist ja beim Rheinländer so, dass er viel Geduld hat, „leben und leben lässt“, aber wenn die Geduld am Ende ist, dann ist auch Schluss.

Ist der „rheinische Katholizismus“ eigentlich ein Segen für den Anspruch des Christlichen – oder nicht doch ein Untertunneln: „Der Herrgott is doch nit esu …“

Das ist die Karikatur. Der „rheinische Katholizismus“ hat in der jungen Bundesrepublik eine große Gestaltungskraft bewiesen und pflegt eben keine „laisser faire“-Attitüden. Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) begeisterte Kardinal Josef Frings Papst Johannes XXIII. mit einem Aufsatz über das Konzil. Frings gründete Misereor und Adveniat. Sein Nachfolger Joseph Höffner, der Westfale im Rheinland, schrieb einen Weltbestseller „Christliche Gesellschaftslehre“, für Generationen von Studierenden eine Pflichtlektüre. Also: Mitten im rheinischen Katholizismus konnte wachsen, was der christlichen Botschaft Überzeugungskraft gibt. Der rheinische Katholizismus ist selbst aber auch zutiefst jesuanisch, weil er weiß: Nicht nur prägt der Glaube das Leben, sondern das Leben prägt auch den Glauben. Es braucht im Glauben, so könnte man es auch sagen, den Perspektivwechsel. Kardinal Frings, der wie ich aus Neuss kam, ist ein gutes Beispiel dafür.

Fehlt es in der Führungsspitze des Erzbistums heute an dieser Fähigkeit zum Perspektivwechsel?

Jedenfalls sollten sich die Verantwortlichen genau prüfen, ob sie das „Leben draußen“ noch ausreichend im Blick haben oder nicht doch einer versteckten Agenda folgen, die da lautet: „Egal, wie viele Leute jetzt austreten, mit dem kleinen heiligen Rest ist es eh viel schöner als mit den Beständen einer Volkskirche, deren Ansprüche wir gar nicht erfüllen können oder wollen.“ Ich empfehle, es sich mit dem Ende der Volkskirche nicht gar so leicht zu machen. Denn der Auftrag Jesu lautet nicht „bleibt unter euch!“, sondern „geht hinaus und bringt allen die Frohe Botschaft!“

Wie sehr ist die aktuelle Krise „hausgemacht kölsch“?

Das ist sie nicht, weil die Krise weit über die Kirche in Köln hinausgeht und der Skandal des Missbrauchs in den Regionen fernab des Rheins genauso groß ist. Die Logik „Institutionenschutz vor Opferschutz“ war überall die gleiche. Wir haben am „Runden Tisch“ der Bundesregierung schon 2010 über die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gesprochen. Jetzt hat man zehn lange Jahre, eine ganze Dekade, verstreichen lassen. Die Kirche könnte viel weiter mit Aufklärung und Veränderung sein, als sie es ist. Das macht mich so skeptisch. Im Sport ist es allerdings nicht besser, im Gegenteil.

In Köln steht auch die Verantwortung liberaler und beliebter Kirchenmänner wie Norbert Feldhoff im Raum, des früheren Generalvikars unter den Kardinälen Höffner und Meisner. Sie kennen ihn sehr gut. Wie gehen Sie damit um?

Norbert Feldhoff war mein Jugendkaplan in Neuss. Das ist nun mehr als 50 Jahre her. Er hat mich in den wichtigen jungen Jahren meines Lebens religiös geprägt. Meine Wertschätzung für ihn ist groß, und daran wird sich auch nichts ändern, wenn deutlich werden sollte, dass er Fehler, auch große Fehler gemacht hat.

Am 18. März soll das von Kardinal Woelki in Auftrag gegebene Gutachten zum Umgang der Bistumsleitung mit Fällen sexualisierter Gewalt vorliegen. Welche heilende Wirkung hätten Rücktritte?

Für sich allein gar keine. Es muss geklärt, aufgeklärt und ganz konkret verändert werden. Wie soll Macht künftig wirksam kontrolliert werden? Wie will die Bistumsleitung auf all die Menschen zugehen, die mitten in dieser Kirche standen und an ihr verzweifelt sind? Wo wird künftig investiert? Und wo nicht? Das sind die Fragen für die nächsten zehn Jahre. Die Antworten dürfen aber nicht wieder zehn Jahre auf sich warten lassen. Der Prüfstein muss sein: Passiert jetzt etwas? Dazu braucht es Tatkraft und klare Prioritäten, um erstens den Opfern gerecht zu werden – und zweitens den Gläubigen im Bistum. Wer in der Kirche ein Leitungsamt übernimmt, steht in der Verantwortung gegenüber den Gläubigen, nicht nur gegenüber Rom. Und „politische Verantwortung“ ohne einen Rücktritt übernimmt nur der, der etwas verändert und besser macht. Alles andere ist bloße Rhetorik.

KStA abonnieren