Interview mit Karl Lauterbach„Wir fahren unsere Kinder im Bus auf die Klippe zu“

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Karl Lauterbach im Belgischen Viertel in Köln, wo er lebt

Der Kölner Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) spricht im ausführlichen Interview über sein neues Buch zum Klimawandel „Bevor es zu spät ist“, zynische Erwachsene, Fleischkonsum, seinen Tischtennisverein in Köln und das WG-Leben in Berlin.  Herr Lauterbach, seit fast vier Monaten sind Sie jetzt Gesundheitsminister. Wie stark hat sich Ihr Leben seitdem geändert? Karl Lauterbach: Sehr stark. Im Moment muss ich drei Aufgaben gleichzeitig bewältigen. Neben dem normalen Geschäft des Gesundheitsministers muss ich die Pandemie bekämpfen. Dazu kommen die Aufgaben wegen des Ukraine-Kriegs. Zum Beispiel die Ausfuhr von Medikamenten in die Ukraine, aber auch die medizinische Versorgung der Geflüchteten in Deutschland.

Abends in einer Kölner Kneipe wird man Sie also nicht mehr sehen?

Das ist in der Tat nicht mehr machbar.

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Sie müssen jetzt viel häufiger in Berlin sein, leben dort mit einer Ihrer Töchter in einer WG. Wie ist das WG-Leben?

Meine Tochter ist eine fantastische Mitbewohnerin. Wir kommen sehr gut klar und ich bin sehr dankbar, dass es sie gibt.

Wie oft sind Sie überhaupt noch in Köln?

Ich schaffe es derzeit nur alle drei oder vier Wochen.

Vermisst man Sie in Ihrem Tischtennis-Verein?

Rot-Gold Porz! Den vermisse vor allem ich.

Was mögen Sie am Tischtennis?

Wenn ich joggen gehe oder auf einem Ergometer trainiere, sind meine Gedanken bei der Arbeit. Dann gehen mir Gesetzentwürfe oder Studien durch den Kopf. Tischtennis ist so schnell, wenn ich mich da nicht komplett auf den Sport konzentriere(n), kann ich den Bällen nur noch hinterherschauen. Ich spiele fast immer mit Leuten, die besser sind als ich, die in der Regional- oder Oberliga spielen. Da verliere ich dann trotz maximaler Konzentration.

Sie haben jetzt ein Buch über den Klimawandel veröffentlicht. Wo haben Sie die Zeit dafür gefunden?

Ich hatte es bereits geschrieben, bevor ich Gesundheitsminister wurde. Der Klimawandel ist das bestimmende Lebensthema unserer Kinder und beschäftigt mich seit Jahren. Mit meiner jungen Tochter Luzie, die bei „Fridays for Future“ aktiv ist, diskutiere ich oft darüber. Ich habe mich tief eingelesen in die Physik des Klimawandels und die erneuerbaren Energien. Das Buch ist das Ergebnis eines langen Denkprozesses, aber eines sehr schnellen Schreibens.

Sie nehmen im Vorwort bereits ein öffentliches Urteil vorweg: Man werde Sie wieder als Kassandra bezeichnen. Fühlen Sie sich gut getroffen mit der tragischen Heldin, die immer das Unheil voraussieht, aber niemals gehört wird?

Nein – und zwar aus drei Gründen. Erstens: Ich übermittle immer auch positive Nachrichten und warne nicht immer nur. Somit bin ich schon mal keine klassische Kassandra. Wir werden schnell erfolgreiche Impfmöglichkeiten haben: Das habe ich in der Corona-Krise bereits verkündet, als viele namhafte Wissenschaftler das noch bestritten haben. Beim Klima sage ich: Deutschland kann mit Solar- und Windenergie so viel erneuerbare Energie herstellen, dass wir als Industrieland ausreichend davon haben werden.

Der zweite Grund?

Menschen, die mich Kassandra nennen, beschäftigen sich meistens nicht mit dem, was ich sage, sondern mit mir als Person. Diese Personalisierung macht alles kaputt. Ich würde mir wünschen, dass Menschen sich mit den Inhalten auseinandersetzen. Drittens kündigt Kassandra an, ohne zu diskutieren. Ich diskutiere bei jeder Gelegenheit. Wenn jemand eine kritische Frage zu meinem Buch stellt, freue ich mich darüber.

Eine These Ihres Buchs: Wir werden das 1,5-Grad-Ziel nicht schaffen. Und das ist eine schlechte Nachricht. Denn bei mehr als 1,5 Grad Erderwärmung droht zunehmend, dass zahlreiche Kipppunkte einen unumkehrbaren Prozess in Gang setzen. Die Katastrophe ließe sich dann nicht mehr abwenden.

Es war übrigens ein deutscher Forscher, Hans Joachim Schellnhuber, der zuerst das System der Kipppunkte erkannt hat. Ein Beispiel: Wenn die Permafrostböden bis zu einem bestimmten Punkt auftauen, entlassen sie so viel Co2 und Methan in die Atmosphäre, dass sich die Erwärmung immer weiter beschleunigt. Wir können den Permafrost nicht einfach wieder dicht machen, ihn vereisen. Es gibt keine Technologie, mit der man das machen könnte.

Die 1,5 Grad könnten wir der Wissenschaft zufolge bereits 2030, also in nur 8 Jahren, erreichen. Müssten wir nicht schon jetzt ehrlich sagen: Wir vergeigen es, unseren eigenen Untergang abzuwenden?

Auch wenn das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr erreicht werden kann, kommt es drauf an: Um wie viel verfehlen wir es? Je weiter wir von zwei Grad wegbleiben, desto besser. Für Deutschland allein betrachtet, schaffen wir die 1,5 Grad. Aber Russland wird das Ziel aus offensichtlichen Gründen nicht schaffen, China und die Vereinigten Staaten ebenfalls nicht.

Die Bewegung „Fridays for Future“ kritisiert auch die deutsche Politik als zu lasch.

Robert Habeck hat den Schwerpunkt richtig gelegt: auf den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien, von Wind- und Solarenergie.

Ihr Buch liest sich so, als würden Sie deutlich über diese Politik hinausgehen wollen.

Bei den erneuerbaren Energien muss man das Maximum rausholen. Da geht Robert Habeck schon ziemlich nah an das Mögliche heran. Ich begrüße, dass auch die FDP die Dringlichkeit begreift. Wir müssen uns dringend wirtschaftlich unabhängig von Ländern wie Russland machen. Länder, in denen der Ausbau der erneuerbaren Energien besonders schnell gelingt, werden künftig besonders erfolgreich sein. Es wird die billigste Energie sein, die auch noch das Klima schützt. Diese Argumente müssen jeden überzeugen.

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Sie wollen in Ihrem Buch keine Schuldzuweisungen machen. Angela Merkel hat das getan, was sie konnte in Sachen Klimaschutz, schreiben Sie. Ist das wirklich Ihr Ernst?

Ich kenne sie ganz gut und glaube, dass sie deutlich mehr gewollt hat, als ihr möglich war. Sie hat das Problem klar erkannt. Die CDU-Fraktion war leider nicht hilfreich, es gab auch viel Lobbyismus. Wir gehen jetzt deutlich weiter. Und klar, Robert Habeck macht eine Energie- und Umweltpolitik, die Merkel nie gewollt hätte.

Eine Schuldzuweisung gibt es in Ihrem Buch: „Die Erwachsenen hier in Europa scheinen dagegen komplett ihren Idealismus verloren zu haben und erschöpft zu sein. Sie sind zum Teil so zynisch wie die Charaktere der amerikanischen Serien, die sie verschlingen.“ Das ist ein vernichtendes Zeugnis.

Es ist leider so. Den Kampf der Kinder, die auf die Straße gehen, finde ich rührend und beeindruckend. Trotz des Klimawandels, trotz der Pandemie, trotz des Kriegs und der damit verbundenen Endzeit-Stimmung gehen sie nach vorne. Wenn ich mit Menschen in meinem Alter bei Wein zusammensitze, fällt mir auf, dass viele kraftlos sind. Ein Stück weit hat man schon aufgegeben und sagt: Okay, das können wir sowieso nicht mehr beherrschen. Aber Abwarten ist keine Option. Natürlich gibt es auch Idealisten unter den Älteren, aber das sind wenige. Mein Freund Günter Wallraff ist so ein Beispiel.

„Wir schieben unsere Kinder in einen globalen Schulbus hinein, der mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt“, zitieren Sie den Klimawissenschaftler Schellnhuber. Warum gibt es keinen Aufschrei bei den Eltern oder Großeltern, die wissen, dass ihre Kinder und Enkel massiv unter dem Klimawandel leiden werden?

Die meisten interessieren sich zu wenig dafür. Viele wissen gar nicht, was Kipppunkte sind. Sie denken auch, dass es nicht so wichtig ist, ob das Problem mit dem Klimawandel jetzt oder zehn Jahre später gelöst wird. Die Erwachsenen bekommen zwar mit, dass protestiert wird, aber sehen nicht, wie prekär die Situation ist. Ich sehe eine spektakuläre Ignoranz. Wir fahren unsere Kinder tatsächlich im Bus auf die Klippe zu.

Sie bezeichnen die jüngere Generation als positiven Kipppunkt, weil sie ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt. Hat sie die Kraft, in der verbleibenden Zeit genug zu verändern?

Die Dinge werden sich doch definitiv ändern, die Frage ist nur wann. Wir werden kaum noch Öl und Gas verbrauchen, wir werden komplett aus dem Verbrennungsmotor aussteigen, werden uns im Wesentlichen vegetarisch ernähren und mit Holz bauen. Es muss uns aber gelingen, bevor die Kipppunkte einsetzen. Je länger wir brauchen, desto teurer und mühsamer wird es. Und wir müssten darüber hinaus noch Dinge machen wie Co2 aus der Atmosphäre gewinnen. Es wird eine Welt weitgehend ohne blauen Himmel sein, weil wir Strahlungs-Management machen müssen.

Sie fordern viel mehr Wissenschaftler in der Politik und einen erheblichen personellen Umbau des Bundestages. Politiker hätten wenig Interesse an einer wissenschaftlichen Bewertung, den meisten gehe es schlicht darum durchzusetzen, was sie durchsetzen wollen. Der Politikbetrieb kommt in Ihrem Buch schlecht weg.

Keine Verbesserung ohne Kritik, das ist doch klar. Bei der Bewältigung des Klimawandels hat die Wissenschaft noch nicht die Bedeutung, die sie haben müsste. Wenn es anders wäre, stünden wir besser da. Ein Positivbeispiel ist für mich der Expertenrat, der die Bundesregierung in Corona-Fragen berät. Stellen sie sich vor, wir würden das auch in anderen Bereichen machen? Das wäre ein vorbildliches Verfahren für die Klima-Fragen, die jetzt anstehen.

In der Corona-Krise mussten viele Dinge neu erforscht werden. Was das Klima angeht, ist aber vieles seit Jahrzehnten bekannt. Gibt es nicht viel mehr ein Umsetzungs-, als ein Wissensproblem im Bundestag?

Ich behaupte: beides. Derzeit wird häufig darauf verwiesen, dass neue Technologien die Probleme lösen werden. Redner im Bundestag, die behaupten, wir bräuchten einfach nur neue, etwas sicherere Kernkraftwerke. Oder grünen Wasserstoff in großem Stil. Es wird aber keine neue Technologie kommen in der Zeit, die uns noch zur Verfügung steht. Natürlich sollten wir die vorhandene bestmöglich optimieren. Wenn wir flächendeckend Gebäude mit Photovoltaik-Folien bekleben können, wäre das wunderbar. Aber wir können und dürfen nicht warten, um die Energiewende anzupacken. Die gesamte Physik und Technologie, die wir benötigen, ist schon da.

Sie essen schon lange kein Fleisch mehr. Fällt Ihnen der Verzicht schwer?

Überhaupt nicht. Ich bin als Arzt viel in Kontakt mit Menschen, die krankheits- oder schicksalsbedingt wirklich schweren Verzicht praktizieren müssen. Dass ich kein Fleisch esse und mich nur ab und zu auf ein Stück Fisch konzentriere, ist kein nennenswerter Verzicht. Das tue ich schon seit mehr als der Hälfte meines Lebens, seit 1987. Damals gab es noch viel mehr Hunger in Afrika. Zur Produktion von 100 Gramm Fleisch wird kiloweise Getreide verbraucht. Die Energiebilanz von Fleisch ist seitdem nicht besser geworden. Dazu kommt noch die Methan- und Co2-Freisetzung.

Schon über eine ausschließlich pflanzliche Ernährung nachgedacht?

Mit der Art und Weise, wie ich mich jetzt ernähre, bin ich gut unterwegs. Meine Co2- und Methan-Bilanz ist nicht so schlecht. Da muss ich nicht den letzten Schritt gehen. Ich finde es aber toll, wenn sich jemand vegan ernährt.

In Ihrer Partei, der SPD, gibt es immer einen Aufschrei, wenn etwas teurer werden soll, wie Fleisch etwa. Kommen wir damit weiter?

Ich verstehe es, dass sich eine sozialdemokratische Partei um die wirtschaftliche und soziale Situation der Ärmsten Gedanken macht. Niemand soll auf etwas verzichten müssen, was sinnvoll ist. Davon kann hier aber keine Rede sein. Unser Fleisch ist so billig, dass der Fleischkonsum für die sozial Schwächeren ein Gesundheitsrisiko ist. Es wird auf der Grundlage einer unfassbaren Tierquälerei produziert. Wer das isst, wird krank davon. Und dann beschleunigt es auch noch den Klimawandel. Fleisch ist in jeder Hinsicht schlecht.

Klimaschutz ist nur möglich durch eine Verhaltensänderung jeder und jedes Einzelnen. Die meisten wissen das, es geschieht trotzdem zu wenig. Müssen es am Ende doch die Verbote regeln?

Verbote sind ein gutes Mittel. Ich sage das ungerne, aber wenn wir in dem Tempo weitermachen, werden wir die Kipppunkte nicht aufhalten. Es sind nach wie vor viel zu viele Autos auf der Straße, es wird zu viel gereist, es wird zu viel Fleisch gegessen. Wir konsumieren zu viel. Alles ist business as usual. Wir werden mit Anreizen arbeiten, aber hier und da muss es auch Verbote geben. Alles andere wäre unehrlich.

„Wahrscheinlich wird Russland bereits im Jahr 2030 das einzige große Land sein, in dem Gas günstiger ist als die erneuerbare Energie.“ Die Passage in Ihrem Buch ist durch den Krieg in der Ukraine aufs Traurigste überholt. Was bedeutet der brutale Konflikt für die Klimawende?

Die Energiewende wird sich erheblich beschleunigen. Schon allein, damit wir nicht abhängig von Russland sind. Die These, dass künftig nur in Russland Gas billiger sein wird, bleibt also richtig.

Haben wir noch genug Geld für den schnellen Umbau, wenn die Energiepreise dermaßen explodieren?

Die Kosten der Energiewende sind und bleiben tragbar. Die Begrenzung sehe ich eher darin, dass wir nicht genug Fachkräfte haben, die den Umbau rasch bewältigen können.

Es fehlt an vielem: An Handwerkern und Produzenten, die in kurzer Zeit Windräder und Soldardächer herstellen und anbringen. Es fehlt an kurzen, unbürokratischen Planungswegen. Nur an einem mangelt es nicht: Bürgerinitiativen, die verhindern wollen, dass die neuen Trassen durch ihr Dorf gelegt werden. Wie sieht Ihre Lösung aus?

Robert Habeck arbeitet an einem Transformationsgesetz, mit dem wir die Genehmigungsprozesse deutlich beschleunigen wollen. Das Allgemeinwohl muss schnell durchgesetzt werden können. Natürlich müssen dann auch angemessene Entschädigungen gezahlt werden.

Die Stadt Köln hat jüngst ein neues millionenschweres Förderprogramm für Solaranlagen aufgelegt. Die bürokratischen Hürden für den Umbau sind aber gerade bei Mehrfamilienhäusern immens.

Auch da bereiten wir eine Reform vor. Viele Menschen in Deutschland leben in Mehrfamilienhäusern mit zum Teil komplizierten Eigentumsverhältnissen. Wir müssen in eine Situation kommen, dass Photovoltaikanlagen und Wärmepumpen mit wenig Blockademöglichkeiten installiert werden können.

In Folge des Klimawandels drohen auch weitere Pandemien. In den auftauenden Permafrostböden schlummern zum Teil gefährliche Erreger, die nicht nur Menschen, sondern auch Tiere oder Pflanzen betreffen können, was Nahrungsmittelknappheit zur Folge haben könnten. Welchen Gefahren werden in der Wissenschaft als realistisch diskutiert?

Pandemien werden definitiv an Bedeutung gewinnen, die Abstände werden kürzer werden. Das liegt am Klimawandel, aber auch am Bevölkerungswachstum, der zur immer größeren Nähe zwischen Menschen und Wildtieren führt. Wir müssen erforschen, wie es zu Ausbrüchen kommt und schneller werden in der Entwicklung von Impfstoffen. Beim G-7-Gipfel im Juni hat Deutschland die Präsidentschaft inne. Ich werde Pandemien dort zu einem Themenschwerpunkt machen, Wissenschaft und Politik zusammenbringen, damit wir auf künftige Pandemien besser vorbereitet sind.

Wir werden künftig Wassermangel haben, Flüchtlingsströme, Hitzewellen: Die Welt wird sich massiv verändern. Wer Ihr Buch liest, ist versucht, sich die Decke über den Kopf zu ziehen: Wie lautet Ihre Empfehlung an alle, die einen Unterschied machen wollen?

Jeder, dem es möglich ist, sollte sich ein Elektroauto kaufen oder sich vegetarisch ernähren. Aber auch politisches Engagement ist wichtig. Schließen Sie sich Klimaschutz-Organisationen an, unterstützen Sie die Kinder bei ihrem Kampf. Wenn ein reiches Land wie Deutschland bei der Energiewende und beim Klimaschutz vorangeht, wird das weltweit wahrgenommen. Wir sind viel bedeutsamer als unser Anteil an der Bevölkerung in der Welt.

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