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Mehr Jugendkriminalität in NRW„Polizeistatistik nicht sehr verlässlich“ – Kriminologe warnt vor voreiligen Schlüssen

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Ein junger Mann hebt seine geballte Faust (Archivfoto vom 11.01.2008). Den Kampf gegen Jugendkriminalität soll in Frankfurt ein gemeinsames Haus von Strafverfolgern, Justiz und Jugendhilfe voran bringen. Landesregierung und Magistrat versprechen sich von der Zusammenarbeit der Behörden unter einem Dach schnellere Reaktionen auf Straftaten - nach Ansicht von Fachleuten die entscheidende Voraussetzung, um bei jugendlichen Kriminellen etwas zu bewirken.

Wissenschaftler warnen davor, die gestiegenen Zahlen zur Jugendkriminalität in NRW überzubewerten. Foto: dpa

Kriminologen warnen davor, die gestiegenen Zahlen bei Kinder- und Jugendkriminalität in NRW überzubewerten. Warum erklärt Klaus Boers von der Uni Münster.

„Kriminalität von Kindern und Jugendlichen ist ein Feld, das wir künftig stärker beackern müssen“, sagte Herbert Reul, Innenminister von Nordrhein-Westfalen, bei der Vorstellung der Kriminalitätsstatistik des Jahres 2022. Von den rund 482.000 Tatverdächtigen sei jeder Fünfte unter 21 Jahre.

„Das ist eine Entwicklung, die Sorge machen muss.“ Im Zehn-Jahres-Vergleich liege die Gesamtzahl im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität zwar im Durchschnitt. Die Zunahme bei den Jüngsten in dieser Gruppe, also bis zu 14 Jahren, sei aber auffällig. „Kinder sind eindeutig zu oft Täter.“

Das sei eine Folge der Corona-Pandemie. „Die Schulen waren zu, die Kinder sind nicht zum Sport gegangen, Klassenfahrten, Kindergeburtstage sind oft ausgefallen. Damit haben wir unseren Kindern zwei Jahre genommen, um sich zu entwickeln und zu lernen, wie Konflikte zu bewältigen sind.“

Alles zum Thema Herbert Reul

Diese deutlichen Aussagen des CDU-Politikers seien so nicht zu halten und ließen sich durch die Zahlen auch nicht belegen, sagt der Kriminologe Professor Klaus Boers von der Universität Münster, der sich seit vielen Jahren mit Kinder- und Jugendkriminalität beschäftigt und mit dem Soziologen Klaus Reinecke von der Universität Bielefeld im Jahr 2020 eine viel beachtete Langzeitstudie vorgelegt hat.

Von 2002 bis 2019 befragte eine Gruppe von Wissenschaftlern in Duisburg Menschen zwischen 13 und 30 regelmäßig nach begangenen Straftaten, Einstellungen, Werten und Lebensstilen. Das Ergebnis glichen die Forscher mit dem Erziehungs- und Strafregister ab.

Herr Professor Boers, NRW-Innenminister Herbert Reul hebt bei der Vorstellung der Kriminalitätsstatistik für 2022 vor allem den negativen Trend bei der Kinder- und Jugendkriminalität und der Gewalt an Schulen hervor. Geben das die Zahlen her?

Nein. Das sind sehr grobe absolute Zahlen, die nur eine geringe Aussagekraft haben. Wenn man einen Vergleich über einen bestimmten Zeitraum ziehen und Altersgruppen miteinander vergleichen möchte, muss man die Grundgesamtheiten kennen, also wie üblich pro 100.000 Kinder und Jugendliche gewichten. Das geht aus den gerade in NRW für 2022 veröffentlichten Zahlen noch nicht hervor.

Zahlen lage Ende der 90er Jahre auf sehr niedrigem Niveau

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der bislang bekannt gegebenen NRW-Kriminalitätsstatistik überhaupt ziehen?

Sie liefert einen ersten groben Überblick. Man findet Gesamthäufigkeitsziffern, die aber noch nicht nach Delikten oder für Kinder und Jugendliche differenziert worden sind. So kommt man im Jahr 2022 für alle Delikte auf einen Anstieg von sechs Prozent gegenüber 2018 und von allerdings elf Prozent gegenüber 2019. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass seit den 2000er Jahren in Deutschland wie in anderen Ländern die Kriminalität einschließlich Gewaltdelikten um rund ein Viertel zurückgegangen ist. Die festgestellte Zunahme im Jahr 2022 erfolgt also vom seit den 1990er Jahren niedrigsten Niveau aus. Ob diese Zunahme kurzfristig ist, oder ob daraus ein Trend wird, bleibt in den kommenden zwei bis drei Jahren abzuwarten.

Elf Prozent in zwei Jahren. Ist das nicht besorgniserregend?

Darin ist alles enthalten, vom Schwarzfahren bis zum Mord. Schwarzfahren oder Ladendiebstahl sind die häufigsten Delikte. Ja, 2022 sind auch Gewaltdelikte, also vor allem Körperverletzungen, in absoluten Zahlen mehr geworden. Allerdings sind auch mehr Menschen eingewandert. Deshalb kann man die Entwicklung erst korrekt beurteilen, wenn die um die aktuelle Bevölkerungszahl relativierten Kennziffern veröffentlicht werden.

Minister Reul behauptet, in zwei Jahren Corona hätten Kinder und Jugendliche keine Möglichkeit gehabt zu lernen, wie man Konflikte gewaltlos lösen kann.

Es ist noch zu früh, Schlussfolgerungen zu ziehen. Dazu benötigt man zunächst von der Polizei die relativen Belastungszahlen zu den Tatverdächtigen und muss deren Entwicklung in den kommenden zwei bis drei Jahren abwarten. Die Polizeistatistik ist dafür aber nicht sehr verlässlich, da sie vor allem auf Anzeigen aus der Bevölkerung beruht. Und die Anzeigeerstattung ist stark davon abhängig, ob und welche Kriminalitätsprobleme gerade, insbesondere auch in den Medien, diskutiert werden.

Täterbefragungen gibt es nur in Niedersachsen

Gibt es denn andere Zahlen als die der polizeilichen Kriminalitätsstatistik?

Ja, man kann vor allem Dunkelfeldzahlen verwenden. Sie beruhen auf repräsentativen Befragungen von Jugendlichen, ob und welche Taten sie begangen haben. Solche Täterbefragungen werden in Deutschland leider nur in Niedersachsen regelmäßig durchgeführt. Nach den zuletzt für 2019 berichteten Befunden ist die Gewaltdelinquenz von Jugendlichen, auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, deutlich zurückgegangen – vor allem zwischen Mitte der 2000er Jahre und 2013.

Lassen sich die Ergebnisse aus Niedersachsen auf NRW übertragen?

Das kann man bezweifeln. Niedersachsen ist zum Beispiel deutlich ländlicher geprägt. Es müsste solche Täterbefragungen zumindest auch in NRW und in einem süddeutschen und ostdeutschen Bundesland geben. Dann hätte man für Deutschland schon einmal ein repräsentativeres Bild. Methodisch und kriminologisch ist das kein Problem. Auch die Befragungsinstrumente sind vorhanden. Das ist vor allem eine Geldfrage. Diese Befragungen müssten alle zwei Jahre durchgeführt und vom Bund und den Ländern finanziert werden.

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