Jeder fünfte Schüler bezeichnet sich als psychisch belastet. Zwei Lehrkräfte berichten über die Auswirkungen auf den Schulalltag.
Krise um psychisch kranke Schüler„Unsere Lehrkräfte sind zu 60 Prozent Sozialarbeiter“

Psychische Probleme bei Schulkindern: „Zu oft fehlt für Gespräche, Begleitung oder akute Krisen schlicht die Zeit, weil Personal fehlt. (Symbolfoto)“
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Zuletzt war es die Bundesschülerkonferenz, die Alarm schlug. Ende Oktober forderten die Schülervertreter mehr Hilfe, um der Krise der psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen zu begegnen. „Das ist ein Notruf“, sagte Quentin Gärtner, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz. Dem Deutschen Schulbarometer zufolge bezeichnen sich 21 Prozent der Schülerinnen und Schüler als psychisch belastet.
Einige Lehrkräfte schlossen sich dem Appell der Schüler an. „Zu oft fehlt für Gespräche, Begleitung oder akute Krisen schlicht die Zeit, weil Personal fehlt“, sagt auch Stefan Behlau, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) in Nordrhein-Westfalen dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Der Umgang mit solchen Situationen verlangt Zeit und Raum und ist Herausforderung und Belastung für die Kolleginnen und Kollegen in den Schulen gleichermaßen.“ Lehrkräfte wollen unterstützen, können es aber nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, so Behlau. „Mehr Schulsozialarbeit, multiprofessionelle Teams und verlässliche Entlastungsstrukturen würden Schulen mittel- und langfristig enorm helfen.“
Der Kölner Stadt-Anzeiger hat mit zwei Lehrkräften über den Schulalltag mit psychisch kranken Schülern gesprochen. Sie erzählen von Hilflosigkeit, trägen Behördenwegen und einem Wunsch.
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Viele Schüler verwahren wir nur noch.
„60 zu 40. So sehe ich die Rollenverteilung unserer Lehrkräfte derzeit. Sie sind zu 60 Prozent Sozialarbeiter, zu 40 Prozent unterrichtende und benotende Lehrer. Die 60 Prozent werden im Studium überhaupt nicht berücksichtigt.
Unsere Rolle hat sich in den letzten zehn Jahren massiv verändert. Die Schülerinnen und Schüler sehen uns deutlich häufiger als Vertrauenspersonen, viele wenden sich an uns, bevor sie mit ihrer Familie über ihre Probleme sprechen. Aber den psychischen Krankheiten von Kindern und Jugendlichen ist das Schulsystem nicht gewachsen. Seit der Corona-Pandemie sehe ich da einen deutlichen Anstieg. Das zeigt sich besonders bei uns, schließlich sind Hauptschulen ein Auffangbecken für alle. Psychisch kranke Kinder schaffen oft die Versetzungsanforderungen nicht und das System spült sie zu uns runter – manchmal sogar vom Gymnasium.
Viele erkrankte Schülerinnen und Schüler verwahren wir nur noch. An Unterricht ist nicht mehr zu denken. Wir haben einen Schüler, der irrt mehrmals am Tag durch das Gebäude, platzt in Klassen, in die Verwaltung und in Gespräche unserer Schulsozialarbeiter. Sitzt er tatsächlich mal im Unterricht, macht er dicht. Zieht die Kapuze über den Kopf und igelt sich ein. Wir haben seine Schulgesundheit überprüfen lassen. Meist kriegen wir in solchen Fällen ein Schreiben vom Gesundheitsamt zurück: Es bestehe keine akute Suizidgefahr, aber man müsse alternative Beschulungsmöglichkeiten finden. Damit spielt das Amt den Ball zurück zu uns: Wir sind verpflichtet, eine solche Beschulungsform aus dem Hut zu zaubern. Das kann eine Kurzbeschulung sein, worüber wir versuchen, ihn wenigstens für zwei Stunden am Tag am Unterricht teilnehmen zu lassen. Oder wir lassen ihn in einem separaten Raum arbeiten. Einen Erfolg sehen wir leider selten.
Manche depressive Schüler haben Eltern, die ebenfalls psychisch erkrankt sind
Manche depressive Schüler haben Eltern, die ebenfalls psychisch erkrankt sind. Das kann auch die Elternarbeit herausfordernd machen. Ein Vater hat bei uns Hausverbot, weil er bei seinem letzten Auftritt dafür gesorgt hat, dass vier meiner Kolleginnen beim schulpsychologischen Dienst gelandet sind. Sein Sohn lebt mittlerweile in einer Einrichtung des Jugendamtes. Manchmal haut er von dort ab, was meiner Kollegin ein unruhiges Wochenende beschert. Montags, spätestens am Dienstag, steht er wieder bei uns auf der Matte. Für viele Schüler sind wir die einzige Konstante in ihrem Leben.
Als Hauptschulleiter bin ich gewohnt, kleine Brötchen zu backen. Ob ich zufrieden nach Hause gehe, hängt nicht vom Klassenarbeitsschnitt ab, sondern davon, ob ein Schüler durch uns noch die Kurve gekriegt hat. Wir haben schon Obdachlose unterrichtet und zentrale Prüfungen in die JVA geschickt. Unsere Schulsozialarbeiter sind voll ausgelastet, sie kümmern sich um Erziehungshilfe, sozialpädagogische Familienhilfe und um Kindeswohlgefährdung. Aber bei Kindern und Jugendlichen mit Depressionen oder Borderline-Störungen stoßen wir an unsere Grenzen, weil sie dringend eine fachmedizinische Betreuung brauchen. Schüler, die sich fest in Therapie befinden, sind leider die Ausnahme. Dabei arbeiten wir bereits mit einer kinderpsychologischen Praxis zusammen, die wir fast allein ausgebucht haben.
Ein schwer auszuhaltendes Dilemma
Für meine Kollegen entsteht so ein schwer auszuhaltendes Dilemma. Sie wollen ihrer Schülerin helfen, die Suizidgedanken äußert, müssen aber gleichzeitig weitere 25 Kinder in der Klasse unterrichten. Manche Kollegen resignieren und sagen: Hauptsache, der depressive Schüler kommt in die Schule. Dann wissen wir, dass er gerade nicht an einer Brücke steht.
Wenn Weihnachten wäre, würde ich mir zwei feste Stellen für Kinder- und Jugendpsychologen an meiner Schule wünschen. Vollzeit. Sie würden einen Raum bekommen und die Kinder bei uns betreuen, jenseits von Warteterminen und Krankenversicherungen. Damit die Kinder nicht mehr versauern, weil unser System kaum Versorgungsmöglichkeiten zwischen einer geschlossenen Psychiatrie und Regelschulbetrieb vorsieht. Und damit wir endlich wieder eine schöne Mathestunde machen können.“
„Wir fahren den Karren gegen die Wand und überlegen dann, wie man die Trümmer aufsammelt“
„Gerade für Kinder im Autismusspektrum oder mit ADHS ist der Wechsel vom Kindergarten zur Schule schwer. In seiner ersten Schulwoche sprang einer meiner Schüler nur durch die Klasse, beschimpfte andere Kinder, warf sich auf den Boden, trat gegen den Tisch und fuhr die Tafel hoch und runter. Er war maßlos überfordert. Eigentlich hätte er sofort eine Unterstützung gebraucht, damit er nicht zum Schluss kommt, dass er im Schulsystem versagen wird.
Manche Kinder mit psychischen Vorbelastungen sind nicht laut, sondern unheimlich still. Ein Mädchen in meiner Klasse ist traumatisiert, weil sie Erfahrungen mit Gewalt gemacht hat. Manchmal weint sie den ganzen Tag. Ich würde mich so gerne intensiver und um die Bedarfe der Kinder kümmern, aber mir fehlt dafür im Schulalltag die Zeit. Schließlich habe ich auch einen Bildungsauftrag für ihre Mitschüler und möchte, dass sie lesen und schreiben lernen. Dieses Dilemma ist ein großer Stressfaktor in unserem Job.
In jedem ersten Schuljahr kommen Kinder zu uns, die zwar psychische Auffälligkeiten zeigen, aber noch keine Diagnose haben. Das bedeutet: Wir können nicht zu Beginn des schulischen Lebens unterstützende Maßnahmen wie eine Schulbegleitung für sie beantragen. Zuerst müssten wir mit den Eltern sprechen und sie ermutigen, einen Termin bei einem Psychiater zu vereinbaren. Ein Kind, das ich unterrichte, wartet gerade auf einen solchen Termin. Er ist im Februar.
Unser derzeitiges System ist viel zu träge
Ich wünschte, es gäbe eine Nummer, die ich anrufen könnte, um zu sagen: ‚Ich habe eine neue Klasse mit einem auffälligen Kind. Damit dieses Kind den Schulstart positiv bewältigt, brauche ich Unterstützung – und zwar jetzt.‘ Allein kann ich das nicht leisten, das sprengt völlig den Rahmen meiner unterrichtlichen und pädagogischen Arbeit. Unser derzeitiges System ist viel zu träge. Wir fahren den Karren gegen die Wand und überlegen dann, wie man die Trümmer aufsammelt. Wenn ein Kind denkt: Ich bin sowieso dasjenige, das immer ausrastet und alle stört, dann manifestiert es diese Rolle. Und gerade ADHS kann dadurch ein Risikofaktor für Depressionen sein.
Die Probleme, von denen ich erzähle, sind eigentlich nicht neu. Schon in meiner allerersten Klasse waren Kinder mit psychischen und sozialen Herausforderungen. Aber die Belastung für uns Lehrkräfte ist gestiegen – auch durch die Art, wie Inklusion umgesetzt wird. Das Spektrum an Schülern ist breiter gestreut, die Sonderpädagogen helfen nur für ein bis zwei Stunden pro Woche in der Klasse. Ihr Stundenkontingent wird auf die ganze Schule verteilt und jede Klasse hat Kinder mit Förderbedarfen. Die restliche Zeit werden wir Lehrkräfte mit den Herausforderungen allein gelassen.
Mittlerweile haben wir multiprofessionelle Teams an den Schulen. An sich eine super Sache: Zu ihnen zählen Sonderpädagogen, Sozialarbeiter, Alltagshelfer. Aber auch hier fehlt die Zeit, um gemeinsam, als Team, Strategien bezogen auf einzelne Kinder zu entwickeln. In meiner Traum-Schule hätten wir deshalb ein konsequentes Team-Teaching und kleinere Lerngruppen. Und wir hätten einen Psychologen, der schnell und unkompliziert helfen könnte.“
*Der Name der Personen wurde geändert, um die Anonymität der Schulen zu wahren.

