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NegativrekordFörderbedarf für Schulkinder in Köln ist so hoch wie nie zuvor

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Ein Kind mit Behinderung sitzt in seinem Rollstuhl gemeinsam mit anderen Erstklässlern ohne Handicap in einem Klassenraum. 

Mehr als jedes elfte Kind muss in der Schule besonders gefördert werden. Bildungsexperten erklären, warum das so ist.

Der Förderbedarf unter den Kölner Schülerinnen und Schülern ist so hoch wie noch nie. Die Quote ist laut dem städtischen Bericht „Inklusionsentwicklung an Kölner Schulen“ im Schuljahr 2024/2025 auf den Rekordwert von 9,2 Prozent gestiegen und liegt damit nochmal um 0,3 Prozent über dem Wert des vorigen Schuljahres. 9081 Schülerinnen und Schüler der Klassen eins bis zehn müssen besonders unterstützt werden – 281 mehr noch als 2023/2024. Im Schuljahr 2005/2006 lag die Quote noch bei 6,1 Prozent und ist seitdem kontinuierlich gestiegen.

Die meisten Kinder, die einen besonderen Förderbedarf haben, werden an allgemeinen Schulen im Rahmen des Gemeinsamen Lernens (Inklusion) unterrichtet. 5,3 Prozent der Kinder und Jugendlichen lernen an Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen oder Gymnasien, 3,9 Prozent an Förderschulen. Besonders die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die an allgemeinen Schulen unterrichtet werden, steigt seit Jahren. 2005/2006 lernten hier nur 0,8 Prozent der Kinder mit besonderem Förderbedarf, 2023/2024 waren es 5,1 Prozent.

Stadt Köln will zwei neue Förderschulen errichten

76 Prozent der Schülerinnen und Schüler werden in den Bereichen „Lernen“, Sprache“ und „emotionale und soziale Entwicklung“ gefördert. Mit Abstand folgen die Bereiche „körperliche und motorische Entwicklung“, „geistige Entwicklung“, „Hören und Kommunikation“ und „Sehen“.

Der Bedarf an Plätzen in Förderschulen stagniert. Ausnahmen bilden die Schulen, die Plätze für „Geistige Entwicklung“ anbieten. „Die bestehenden Schulstandorte der vier Förderschulen geistige Entwicklung sind vollkommen ausgelastet“, schreibt die Stadt. Auch die Platzkapazität an allgemeinen Schulen sei begrenzt. Daher will die Stadt zwei neue Förderschulen mit diesem Schwerpunkt in Kreuzfeld und im rechtsrheinischen Norden errichten. Da es nicht absehbar sei, wann der Bildungscampus in Kreuzfeld gebaut werden kann, zieht die Kommune einen weiteren linksrheinischen Standort in Betracht.

Die erste (vielleicht als Säulengrafik) beschreibt, wie viele Schüler in Köln einen Förderbedarf haben (aktuell 9,2 Prozent), die zweite (vielleicht als Kuchengrafik) sagt aus, in welchen Bereichen die Kinder gefördert werden (auch in Prozent)

„Der völlige Wahnsinn“, sagt Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Kölner Vereins Mittendrin, der sich auf Inklusionsthemen spezialisiert hat, zum Neubau von Förderschulen. Anstatt neue Förderschulen zu bauen, sollte man die Inklusion ausbauen. „Inklusion ist nicht das Problem, sondern die Lösung.“

Warum steigt der Förderbedarf aber seit Jahren an? Die Stadt macht mehrere Faktoren aus: Denkbar sei, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler den „Anforderungen der allgemeinen Schulen nicht gewachsen“ seien. Studien sprächen dafür, dass die Pandemie und neue Bedrohungen wie der Klimawandel und der Ukraine-Krieg das Stresslevel der Kinder und Jugendlichen erhöht hätten. Außerdem könnte sich möglicherweise die Diagnosekompetenz der Lehrkräfte verbessert haben, sodass mehr Förderbedarf erkannt werde.

Falsch attestierte Diagnosen können zur Stigmatisierung der Kinder führen

Seit längerem wird über das „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“, kurz RED diskutiert. Einfach gesagt steht dahinter die These, dass Schulen Kindern öfter einen Förderbedarf attestieren, um an zusätzliche Ressourcen wie Personal zu gelangen. Was aus Sicht der Schulen nachvollziehbar erscheine, „erweist sich für junge Menschen als problematisch, wenn sie unnötigerweise stigmatisiert und geeignetere Unterstützungsangebote übersehen werden“, so die Stadt. Auf das Problem hat bereits 1996 Bildungsforscher Hans Wocken hingewiesen. Zu ähnlichen Überlegungen gelangen die Bertelsmann-Stiftung und ein vom Land NRW beauftragtes Wissenschaftskonsortium.

„Es gibt den begründeten Verdacht, dass viele Kinder einen Förderbedarf attestiert bekommen, die ihn nicht brauchen“, sagt auch Eva-Maria Thoms. „Unsere Schulen schaffen es nicht, sich auf die Unterschiedlichkeit der Kinder einzustellen. Wie vielen Kindern wollen wir noch eine Behinderung bescheinigen? Wir pathologisieren unsere Kinder.“

Wie vielen Kindern wollen wir noch eine Behinderung bescheinigen? Wir pathologisieren unsere Kinder
Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Kölner Vereins Mittendrin

Interessant ist, dass Schülerinnen und Schüler quer durch die Stadt betreut werden, besonders häufig aber in sozial schwachen Stadtteilen. „Kinder aus ärmeren Stadtteilen funktionieren eben nicht so gut wie Lindenthaler Kinder“, sagt Thoms.

Die Familien müssten kämpfen, um finanziell über die Runden zu kommen, leben oft in beengten Verhältnissen, seien oft bildungsfern und sprächen weniger oft deutsch zu Hause. Mit mehr Prävention, schon in den Kindergärten, könnte man den Förderbedarf allerdings reduzieren. Dazu bedürfe es aber mehr Personal, das derzeit schwer zu finanzieren sei.