Der Attentäter von Solingen sollte abgeschoben werden – doch das ging schief. Wer trägt dafür die Verantwortung?
Abschiebung misslungenBezirksregierung Detmold wirft Paul im Fall des Solingen-Attentäters Falschaussage vor

Der Angeklagte im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts. Auf dem Stadtfest in Solingen hatte der Syrer Issa Al H. (27) drei Menschen erstochen.
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Am frühen Morgen des 5. Juni 2023 sollte Issa al H. in der damaligen Flüchtlingsunterkunft in Paderborn abholt werden. Doch die Abschiebung scheiterte – ein Jahr später tötete der Syrer beim Stadtfest in Solingen drei Menschen. Wen trifft die Schuld daran, dass der Attentäter noch im Land war? Die Leiterin der Unterkunft wirft NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) vor, sie mit falschen Aussagen belastet zu haben.
Während Issa al H. bereits zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, geht die Aufarbeitung der politischen Hintergründe im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) des NRW-Landtags zum Attentat in Solingen weiter. Neue Aktenlieferungen belegen nun, dass sich die Einrichtungsleiterin durch die Äußerungen von Josefine Paul massiv unter Druck gesetzt sah. Die Ministerin sei nicht an Lösungsvorschlägen interessiert, sondern „nach wie vor nur an der Suche nach Schuldigen“, heißt es in einer internen E-Mail. Sie frage sich, wann gefordert werde, dass sie „ihre Sachen packe“.

Josefine Paul, Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration (Grüne), spricht bei einem Pressegespräch zum Umsetzungsstand eines Maßnahmenpakets zu Sicherheit, Migration und Prävention. (Archivbild)
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In einer anderen Mail heißt es, die Angehörigen müssten angesichts der Paul-Aussagen „fassungslos“ sein. Die Trauernden wüssten ja nicht, dass die Anschuldigungen „völlig falsch“ seien. In der Nachricht weist sie zudem darauf hin, dass sie ihr Auto wegen eines kaputten Reifens in die Werkstatt haben bringen müssen. „Hier wurde von eventueller Fremdeinwirkung gesprochen“, schreibt die Einrichtungsleiterin.
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Issa al H. soll sich in Unterkunft aufgehalten haben
Die Kritik der Leiterin richtet sich gegen die Darstellung des Sachverhalts rund um den Abschiebungsversuch durch Josefine Paul. Die war davon ausgegangen, dass sich Issa al H. am Morgen des 5. Juni 2023 nicht in der Unterkunft aufgehalten hatte. Der Syrer sei erst am nächsten Tag wieder auftaucht. Paul hatte kritisiert, es sei versäumt worden, der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) die Rückkehr zu melden. Ein weiterer Versuch, den Syrer abzuschieben, war dann nicht unternommen worden.
Ein Dezernatsleiter der Bezirksregierung Detmold stellt den Vorgang anders dar. Danach sei der spätere Attentäter an dem besagten Morgen zwar nicht in seinem Zimmer gewesen, die Unterkunft habe er aber nicht verlassen. Auch aus dem Buchungsprotokoll der An- und Abwesenheitszeiten der Unterkunft ergebe sich, dass „der Betreffende in der Einrichtung aufhältig war“, heißt es in einer Mail, die dem PUA zugänglich gemacht wurde. Daher könne es die Einrichtungsleitung auch nicht versäumt haben, seine Rückkehr gegenüber der ZAB zu melden. In Hinblick auf einen möglichen Untersuchungsausschuss seien „Falschaussagen von Verantwortlichen gewichtig“, heißt es in der Nachricht des Dezernatsleiters.
Verhängung eines Hausarrests war unrealistisch
Auch eine weitere Aussage von Ministerin Paul sorgte in Paderborn für Unmut. Die Grünen-Politikerin hatte erklärt, es habe die Möglichkeit bestanden, einen „Hausarrest“ für Flüchtlinge anzuordnen, um ein Untertauchen zu verhindern. Dies sei völlig „an den Haaren herbeigezogen“, kritisierte die Einrichtungsleiterin. Die Verhängung eines Hausarrests sei ja ein sicheres Indiz dafür, dass eine Abschiebung bevorstehe. Es bestehe die Gefahr, dass die Betroffenen aggressiv würden oder sich selbst verletzten. Die AfD hat jetzt den Antrag gestellt, dass die Leiterin der Flüchtlingsunterkunft erneut im PUA vernommen werden soll.

Gedenken nach einem Jahr: Am Abend zur Tatzeit um 21.37 Uhr stellten Menschen Kerzen an der Gedenkstelle in der Nähe des Tatorts des Solingen-Attentats vom 23.8.2024 ab. (Archivbild)
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Nach der damaligen Gesetzeslage war es den Mitarbeitern der ZAB nicht erlaubt, bei einer Abschiebung auch in anderen Bereichen der Unterkunft nach der ausreisepflichtigen Person zu suchen. Mitarbeiter der ZAB in Bielefeld, die schon von dem PUA vernommen wurden, hatten erklärt, in der Flüchtlingsunterkunft in Paderborn seien Abschiebungen häufig gescheitert. Bei der Einrichtung handelte es sich um ein ehemaliges Kasernengelände. Die polizeiähnlichen Behördenfahrzeuge seien weithin sichtbar gewesen, sodass es möglich war, Bewohner vorzuwarnen.
Solingen-Attentäter stellte 2022 Asylantrag
Issa al H.war nicht auf seinem Zimmer, als das Abschiebeteam ihn mitnehmen wollte. Auch die Durchsuchung von Toiletten, Duschen und Gemeinschaftsräumen blieb erfolglos. Nach 30 Minuten rückten ZAB-Mitarbeiter wieder ab. Zimmer anderer Bewohner zu durchsuchen, ist erst seit Anfang 2024 erlaubt.
Issa al H. war im Dezember 2022 nach Deutschland gekommen und hatte einen Asylantrag gestellt. Die Einreise in die EU erfolgte über Bulgarien. Nach der Dublin-III-Verordnung wären die dortigen Behörden für das Asylverfahren zuständig gewesen. Bulgarien hatte der Rückführung bereits zugestimmt.
Allerdings ist die Überstellung an Fristen geknüpft. Im Fall des Syrers hätte sie innerhalb von sechs Monaten vollzogen werden müssen. Nach der gescheiteren Abschiebung war es zu spät, einen weiteren Flug nach Bulgarien zu buchen. Somit wurde Deutschland formal für die Bearbeitung zuständig. Im deutschen Asylverfahren erhielt der mutmaßliche Täter dann subsidiären Schutz wegen des Bürgerkriegs in Syrien. Von September 2023 bis zum Tag des Anschlags lebte Issa al H. in einer Flüchtlingsunterkunft in Solingen.

