Präsident des Zentralrates der Juden„Prechts Satz, der von Unwissen zeugt, ist eindeutig antisemitisch“

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Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, spricht im Gemeindezentrum zu den Journalisten. Die Bundesinnenministerin und der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland (ZdJ) besuchen gemeinsam das Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, um über die Auswirkungen des Terror-Angriffs der Hamas und die damit veränderte Bedrohungslage für jüdische Menschen und Einrichtungen in Deutschland zu sprechen.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, über Antisemitismus in Deutschland und den Angriff der Hamas auf Israel.

Herr Schuster, Sie sind in Haifa geboren und in Deutschland aufgewachsen. Bangen Sie in diesen Tagen um israelische Verwandte oder Freunde?

Josef Schuster Ich habe einen Cousin und eine Cousine jeweils mit Familien, die in Israel leben und mit denen ich im telefonischen Kontakt bin. Sie leben eigentlich nicht in der Nähe des unmittelbaren Konfrontationsgebiets, eher nördlich von Tel Aviv. Das beruhigt mich ein wenig. Doch ich habe sie selten so depressiv erlebt, wie es im Moment der Fall ist.

Sie haben stets betont, dass Sie eine friedliche Koexistenz von Palästinensern und Israelis für möglich halten. Ist das angesichts des terroristischen Überfalls der Hamas und des Raketenterrors immer noch so?

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Ich bin davon überzeugt, dass man die Hoffnung nicht aufgeben sollte. Doch solange es auf palästinensischer Seite terroristische Kräfte gibt, die alles daransetzen, ein friedliches Zusammenleben unmöglich zu machen und ihr Ziel darin sehen, Israel als Staat zu vernichten, ist es jetzt schwerer vorstellbar als es vielleicht noch vor zwei Jahren war.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach beim Besuch von Olaf Scholz davon, dass die Hamas die „neuen Nazis“ seien. Was halten Sie als jüdischer Deutscher von diesem Vergleich?

Das ist in meinen Augen nicht ganz glücklich. Den Hintergrund verstehe ich natürlich – der israelische Regierungschef hat das jüngste, regelrechte Abschlachten vieler Israelis durch die Hamas und deren Aufrufe zu Tagen des Zorns weltweit vor Augen. Der Hamas geht es darum, die Juden generell auszurotten. Das ist eine Vernichtungsideologie, die der NS-Doktrin gleicht.

In dieser Woche hat der Lateinische Patriarch von Jerusalem sich als Austausch gegen Geiseln der Hamas angeboten. Was halten Sie von solchen Vorschlägen?

Die Erklärung des Patriarchen ist ehrenhaft. Doch ich glaube, ihm ist klar, dass die Hamas dieses Angebot nie annimmt.

Weltweit solidarisieren sich Menschen mit den Israelis und den Juden. Gleichzeitig steigen überall die explizit judenfeindlichen Vorfälle seit Kriegsbeginn radikal an. Überrascht Sie das?

Es war leider zu befürchten. Die ersten Reaktionen am 7. Oktober waren klar proisraelisch. Ich hatte jedoch bereits zu Beginn die Sorge, dass sich das Bild schnell drehen wird, wenn leider auch Palästinenser erste zivile Opfer in dieser Auseinandersetzung beklagen müssen. Wir erleben das gerade. Die palästinensische Seite nutzt hierfür sehr geschickt Social-Media-Kanäle, um einseitig die Empörung am Köcheln zu halten.

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland forderte nach dem Hamas-Überfall, Juden und Muslime dürften sich durch die jüngste Gewaltspirale im Nahen Osten „nicht auseinanderdividieren“ lassen. Wie nehmen Sie die Reaktionen muslimischer Verbände in Deutschland auf den islamistischen Terror wahr?

Ich halte es für notwendig, hierbei zwischen dem Großteil der muslimischen Verbände auf der einen Seite und den Muslimen auf der anderen zu differenzieren. Mit der Aussage, dass sich Juden und Muslime nicht auseinanderdividieren lassen sollen, bin ich völlig einverstanden. Interessanterweise gibt es auf der persönlichen Ebene zwischen jüdischen Menschen und muslimischen Menschen viel weniger Probleme, als man denkt. Die Äußerung des Zentralrats der Muslime war jedoch problematisch. Darin wurde zwar der Terror verurteilt. Gleichzeitig war die Erklärung mit einem „Aber“ und dem unsäglichen Begriff der „Gewaltspirale“ versehen, das versuchte, die Hamas-Gewalt zu relativieren. Leider wird diese Täter-Opfer-Umkehr von einer ganzen Reihe muslimischer Verbände – nicht von allen – propagiert und eingesetzt.

Olaf Scholz hat jüngst in Israel versichert, der Antisemitismus hätte in Deutschland keinen Platz. Teilen Sie diese Aussage des Bundeskanzlers?

Ich teile sie insoweit, wenn Bundeskanzler Scholz gemeint hat, dass es in Deutschland keinen Platz für Antisemitismus geben darf. Fakt ist leider, dass es Judenhass in Deutschland gibt und dass der in den letzten Jahren zugenommen hat. Das kann und sollte niemand leugnen.

Israelis lieben Berlin. Doch dort gibt es Anschläge auf jüdische Einrichtungen, Wohnhäuser werden mit Davidsternen markiert und in Neukölln wird das Töten von Juden auf offener Straße gefeiert. Ist Deutschland noch ein sicheres Land für Juden?

Deutschland ist ein sicheres Land für Juden. Dabei bleibe ich. Die Sicherheitsbehörden tun in meinen Augen alles dafür, dass sich das nicht ändert. Selbst wenn die Bedrohung aktuell mehr von arabischer Seite ausgeht als von der rechtsextremistischen Szene in Deutschland.

Sie vertrauen den Sicherheitsbehörden?

Ja, ich habe großes Vertrauen in die Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden.

Auch in die deutsche Justiz bei antisemitischen Vorfällen?

Ich erkenne eine Tendenz zur Besserung in den Justizbehörden. Es wird etwas energischer bei antisemitischen Vorfällen vorgegangen, auch was das Strafmaß angeht. Aber eine Sehschwäche auf dem rechten, beziehungsweise antisemitischen, Auge hat die Justiz immer noch.

Wie können Sie also ein Land als sicher bezeichnen, das jüdische Schulen, Kindergärten, Synagogen tagtäglich und das seit Jahren mit einem großen Polizeiaufgebot schützen muss?

Sie haben insofern recht, als dieser Zustand nicht schön und leider notwendig ist. Der Polizeischutz spricht aber auch dafür, dass hier alles Menschenmögliche getan wird, um Juden ein sicheres Leben zu ermöglichen. Das Gegenteil wäre schlimmer.


Zur Person

Josef Schuster wurde 1954 in Haifa geboren. Die Familie kehrte 1956 nach Deutschland zurück, wo seine Eltern bis zur Nazi-Zeit gelebt hatten. Schuster ist Arzt in Würzburg und seit November 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Zugleich ist er Vizepräsident des World Jewish Congress und des European Jewish Congress.


Sie haben vor fünf Jahren einmal gesagt, wir hätten uns in Deutschland mit „ein bisschen Antisemitismus, ein bisschen Rassismus, ein bisschen Islamfeindlichkeit“ gemütlich eingerichtet. Wo stehen wir denn heute?

Gemütlich ist wohl das falsche Wort. Ich glaube auch, wir müssen das „bisschen“ inzwischen aus dem Zitat streichen. Das politische Klima hat sich in Deutschland insgesamt in den letzten Jahren gewandelt. Die Verantwortung dafür trägt eine Partei, die Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auf ihre Fahnen geschrieben hat.

Sie meinen die AfD?

Ich meine die AfD.

Wie und wo äußert sich Antisemitismus im Alltag deutscher Juden am häufigsten?

Antisemitismus äußert sich am häufigsten im persönlichen Gespräch durch unbedachte Äußerungen, die vom Gegenüber vielleicht gar nicht primär antisemitisch gemeint sind. Aber auch natürlich gezielt durch Anfeindungen – oft knapp unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit.

Fällt Ihnen ein Beispiel für Unbedachtheit ein?

Im jüngsten ZDF-Podcast von Moderator Markus Lanz und dem Philosophen Richard David Precht über Israel und den Gazastreifen kann Precht unwidersprochen anmerken, orthodoxe Juden würden nicht arbeiten, ausgenommen seien „Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte“. Das ist ein klassisches antisemitisches Vorurteil. Ich unterstelle Precht nicht, dass er ein Antisemit ist. Er hat sich nun ja auch entschuldigt. Aber dieser Satz, der von Unwissen und Unbedarftheit zeugt, ist eindeutig antisemitisch.

Ist Antisemitismus immer aktives Tun?

Antisemitismus kann auch die Abwesenheit von Anteilnahme, Fürsorge und Engagement sein. Antisemitismus kann sich passiv zeigen, indem man Sätze wie den von Precht oder beim Stammtisch einfach im Raum stehen lässt. Wer jedoch Widerspruch anmeldet oder jemandem bei solchen Äußerungen den Spiegel vorhält, der tritt ganz praktisch gegen Antisemitismus ein.

Warum scheint die Gesellschaft im Kampf gegen Judenfeindlichkeit nicht voranzukommen?

Kein Mensch wird als Antisemit geboren. Hier tragen Bildungseinrichtungen eine große Verantwortung. Sie benötigen dabei jedoch Hilfe von allen Seiten. Lehrkräfte wissen in der Regel, wie sie Biologie oder Chemie besonders eindringlich vermitteln können. Schwieriger wird es, wenn sie mit Rassismus oder Antisemitismus im schulischen Alltag umgehen sollen. Das ist kein Vorwurf, es wird ihnen im Studium kaum beigebracht. An der Uni Würzburg gibt es einen Studiengang, der angehende Lehrer genau darauf vorbereitet. Ich würde mir wünschen, dass es so etwas flächendeckend gibt.

Sie meinen, dass das Judentum in Deutschland beispielsweise mehr ist als die Schoah?

Der Geschichtsunterricht sieht so aus, dass Juden offensichtlich 1933 vom Himmel gefallen sind und 1945 aus bekannten Gründen nicht mehr da waren.

Wie schwer wiegt eigentlich der mit Flüchtlingen einwandernde Judenhass in Deutschland?

Ich selbst hatte 2015 große Sorgen geäußert, dass wir bewusst Menschen mit antisemitischen Gedankengut nach Deutschland lassen. Man muss jedoch sagen, dass die israelfeindlichen oder explizit antisemitischen Vorfälle seither kaum angestiegen sind. In der Auseinandersetzung, die wir seit fast zwei Wochen haben, flammt jedoch ein Hass auf Israel und die Juden auf, den es in dieser Intensität lange nicht mehr gab. Ich vermute leider, dass hierbei Menschen, die gerade mit diesen Flüchtlingswellen nach Deutschland gekommen sind, auch eine große Rolle spielen.

Werden gemeinsame Projekte Ihres Verbands mit Muslimen, etwa die Denkfabrik Shalom Aleikum, nun Schaden nehmen?

Das glaube ich nicht. Hier treffen sich Menschen, die nicht auf institutioneller Ebene mit irgendeinem Verband zusammenarbeiten. Es sind Muslime und Juden, die in verschiedenen Bereichen gemeinsame Interessen haben. Sie führen auf persönlicher Ebene Gespräche. Das bleibt hoffentlich.

Verschärft eine israelische Bodenoffensive in Gaza die Bedrohungslage für Juden in Deutschland?

Fakt ist, dass es wieder Aufrufe zum „Tag des Zorns“ geben wird – was Israelfeinde und Antisemiten sicher anstachelt. Mich machen alle zivilen Opfer – egal auf welcher Seite – traurig.

Was wünschen Sie sich im Moment?

Ich wünsche mir, dass es gelingt, die fast 200 Menschen, die die Hamas als Geiseln hält, möglichst bald und unversehrt wieder in Israel sehen zu können. Und ich wünsche mir, dass es dann gelingt, diese Auseinandersetzung möglichst unblutig und schnell zu beenden. Es muss jedoch sicher sein, dass Israel keine weiteren Terrorangriffe drohen.

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