Britische Premierministerin Liz TrussEine Frau völlig jenseits der Realität

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Liz Truss

  • Liz Truss legte als britische Premierministerin einen historisch schlechten Start hin. Ihr neoliberaler Kurs reißt Wirtschaft und Märkte in den Abgrund.
  • Ein Ende ist nicht in Sicht. Und bei den Menschen auf der Insel wächst die Angst vor Armut.

Die verbalen Duelle zwischen Premier und Oppositionschef im Unterhaus sind legendär. Aber nur selten war der Anlass so dramatisch wie diesmal. Nicht weniger als die Angst vor Verarmung von Millionen Britinnen und Briten stand in der wöchentlichen Fragestunde des Parlaments am gestrigen Mittwoch zur Debatte. Und die Unfähigkeit der Regierungschefin, sich den Nöten der Bevölkerung zu stellen.

Die Opposition kam gleich zur Sache. „Erwarten Sie ernsthaft, dass die Arbeiter die Rechnung für Ihre nicht finanzierten Steuersenkungen für vermögende Menschen bezahlen?“, fragte der Chef der Labour-Partei, Keir Starmer.

Premierministerin Liz Truss wich aus und verwies vage auf ihr Hilfspaket für Haushalte. Dieses sieht vor, dass Energierechnungen für die Dauer von zwei Jahren bei umgerechnet rund 2800 Euro eingefroren werden sollen. Und für die steigenden Hypothekenzinsen sei nicht die britische Tory-Regierung, sondern die Weltlage verantwortlich.

Die eigene Partei murrt

Wegducken heißt die Taktik. Schließlich ist die Stimmung in der konservativen Partei schon schlecht genug. Hinterbänkler und auch Mitglieder ihres Kabinetts sind überzeugt, dass Truss schon nach sechs Wochen als Premierministerin fulminant versagt habe.

Wie schlecht ihr Ansehen ist, spiegelt sich auch in den Umfragen wider. Die Tories rutschen seit ihrem Amtsantritt immer weiter ab. Dem Meinungsforschungsinstitut YouGov zufolge kommen sie nur noch auf 22 Prozent Zustimmung. 52 Prozent der Britinnen und Briten würden, wenn sie jetzt wählen könnten, für die Labour-Partei stimmen. Anfang des Monats sprachen auch Tories bei der Parteikonferenz in Birmingham offen davon, dass sie nicht damit rechnen, die nächste Wahl gewinnen zu können. „Dafür müsste schon sehr viel passieren“, sagte ein Parteimitglied gegenüber dieser Zeitung. Neuwahlen allerdings sind derzeit nicht in Sicht.

Um Frieden in der zerrissenen Partei zu stiften, holte die Regierungschefin jüngst auch Unterstützer ihres Konkurrenten Rishi Sunak ins Kabinett. Anfang September erst hatte sich die populistische Truss knapp gegen den einstigen Favoriten Sunak als Nachfolgerin des gescheiterten Premiers Boris Johnson durchgesetzt.

„Truss ist in einer sehr schwachen Position“, erklärt Tim Bale, Politologe an der Queen-Mary-Universität. „Sie wurde zwar von den Parteimitgliedern gewählt, von ihren parlamentarischen Kollegen hat jedoch weniger als ein Drittel für sie als Parteivorsitzende gestimmt.“ Diese schauten sich jetzt die Umfragen an und überlegten, wann sie sie am besten wieder loswerden.

„Selbst wenn sie sich erst später dafür entscheiden, werden sie wahrscheinlich immer noch verhindern, dass die Regierung ihre Gesetze durchbringt. Insbesondere jene, die ihre Umfragewerte weiter verschlechtern könnten“, glaubt Bale.

Was damit auch klar ist: Großbritannien hat eine Regierungschefin ohne Macht, eine „lahme Ente“. Wieder einmal.

Wie weiland Margaret Thatcher

„Wachstum, Wachstum, Wachstum.“ Es ist dieser Dreifachruf, der von Truss“ Rede bei der Parteikonferenz besonders in Erinnerung geblieben ist – und bei manchem noch schmerzhaft nachklingt. Die Wiederholung ist ein alter Trick, den die 47-Jährige von der früheren Premierministerin Margaret Thatcher übernommen hat. Sie soll Aufmerksamkeit erregen. Auch sonst ist die „Eiserne Lady“ Vorbild für Truss. Wie jene verfolgt sie einen neoliberalen Kurs. „Sie ist eine Verfechterin des freien Marktes“, sagt Alan Wager von der Denkfabrik UK in a Changing Europe. Das sei die Ideologie, welcher die Regierungschefin ohne Wenn und Aber folge.

Im Sommer, während Truss und Sunak auf Stimmenfang durch Großbritannien tourten, bezeichneten viele die Politikerin als ein Fähnchen im Wind. Sie sei erst Liberaldemokratin gewesen, dann Konservative; sie habe sich erst für den Verbleib in der EU ausgesprochen, jetzt sei sie eine überzeugte Brexiteer. So seien auch ihre marktwirtschaftlichen Pläne, ihre Versprechen, Steuern zu senken, nur ein weiterer opportunistischer Akt, eine kalkulierte, aber hohle Verbeugung vor den rund 180 000 Tory-Mitgliedern, die sich nach einer neuen „Eisernen Lady“ sehnen.

Als eine Politikerin auf Stimmenfang würde sie, wenn sie erst im Amt ist, einen moderateren Kurs einschlagen, waren sich viele Fachleute einig. Mittlerweile ist klar, dass sie mit dieser Einschätzung falsch lagen.

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Truss will die Wirtschaft tatsächlich durch Steuersenkungen in Schwung bringen. Der „Minihaushalt“, welchen die Regierung Ende September vorstellte, umfasst unter anderem eine Senkung der Einkommenssteuer. Außerdem wurden eine Erhöhung der Sozialversicherung und ein Anstieg der Körperschaftssteuer zurückgenommen. Finanziert werden sollte das Paket im Wert von bis zu 245 Milliarden Pfund (280 Milliarden Euro) durch Schulden und Sparmaßnahmen. Es ist die größte Steuersenkung seit den Siebzigerjahren. Woher genau das Geld dafür kommen soll, ließ der Finanzminister offen, bis heute.

Die Auswirkungen von Truss' Politik für Britinnen und Briten sind unmittelbar und sie sind dramatisch. Menschen und Märkte reagierten geschockt. Die Wirtschaft befindet sich im Abschwung. Das Pfund fiel auf ein historisches Tief. Ausländische Anleger halten sich zurück. Das alles wiederum verstärkte den Druck auf die Kurse. Ein Teufelskreis. Um die Pensionskassen zu retten, musste die Notenbank mittlerweile dreimal einspringen und Staatsanleihen kaufen. Andrew Bailey, Chef der Bank of England, machte diese Woche bei einer Veranstaltung in Washington klar, dass damit bald Schluss sei. „Ende der Woche sind wir raus.“

Durch die Eingriffe schnellten die Hypothekenzinsen weiter in die Höhe. Die Menschen sehen sich damit konfrontiert, bis zu 700 Pfund (800 Euro) mehr im Monat aufbringen zu müssen, um ihr Haus abzubezahlen.

„Ich hatte noch nie mehr Angst vor der Zukunft. Ich habe kein Vertrauen in die Leute, die das Land regieren“, sagt die 40-jährige Amalia Gasson aus der Grafschaft Kent im Südosten Englands. Sie und ihr Mann Alex träumten davon, ihr Haus auszubauen. Jetzt haben sie Angst, dass sie bald nicht mehr in der Lage sein werden, ihren bestehenden Kredit zu begleichen. Während Familien straucheln, gehen Hilfsorganisationen die Lebensmittel aus. „Mal abgesehen von der Zeit während des Lockdowns kamen in den letzten Wochen mehr Menschen als jemals zuvor“, berichtet Pat Fitzsimons, die einige Tafeln im Nordosten Londons leitet.

Riesenloch im Minibudget

Massiv unter Druck geraten, verkündete Finanzminister Kwarteng auf dem Parteitag, dass die Regierung die Steuersenkungen für Reiche zurücknehmen werde. Am Dienstag stellte er im Parlament jedoch auch klar, dass er weiterhin optimistisch sei, dass sein Plan aufgehe. Details sollen Ende des Monats bekannt gegeben werden – in einem „Halloween-Haushalt“.

Das Loch, das die Regierung nach Ankündigung des Minibudgets stopfen muss, ist riesig. Umgerechnet bis zu 65 Milliarden Euro müssen durch Einsparungen finanziert werden, rechnete das Institute für Fiscal Studies diese Woche vor. „Das ist eine immense Summe“, sagt der Leiter des Instituts, Paul Johnson.

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Die Premierministerin verlässt ihr Haus an der Downing Street 10

Da Kürzungen bei den Ausgaben für das Gesundheitssystem und die Verteidigung unwahrscheinlich sind, gehen Fachleute davon aus, dass nun bei den Renten, den Sozialleistungen und bei der Bildung gespart werden müsse – wieder einmal. Truss leugnete gestern im Parlament, dass Kürzungen nötig seien. Experten bezweifeln jedoch, dass das möglich sein werde. „Das ist eine Krise, die in der Downing Street entstanden ist“, konfrontierte die Labour-Abgeordnete und Schattenministerin Rachel Reeves Minister Kwarteng im Parlament. „Es scheint, als seien Sie und die Premierministerin die letzten Menschen auf Erden, die glauben, dass dieser Plan funktionieren kann.“

Kein Plan, keine Kommunikation

Wie sich die politische Entfernung von der Realität in der Praxis auswirkt, bekamen die Britinnen und Briten nicht nur durch die Steuersenkungen zu spüren. Truss stoppte eine staatliche Informationskampagne, die darüber aufklären sollte, wie Bürgerinnen und Bürger Energie sparen könnten. Begründung: „Wir sind kein Nanny-Staat.“ Man wolle den Menschen nicht vorschreiben, was sie machen sollen, erklärte Graham Stuart, Minister für Klimawandel. Die Regierung betonte, dass dem Land unter anderem wegen des Zugangs zu Öl und Gas in der Nordsee keine Engpässe bevorstünden. Stromnetzbetreiber widersprachen: In schlimmsten Fall drohten im Winter mehrstündige Phasen ohne Strom.

Kein Plan, keine Kommunikation, das sind Kritikpunkte, die sich Truss auch aus der eigenen Partei anhören muss. Der frühere konservative Bau- und Wohnungsminister Michael Gove sagte in Anspielung auf ihre Wirtschaftspolitik diese Woche, dass dies wirklich nicht die richtige Zeit sei, um zu zocken. In der Bevölkerung gärt neben der Furcht vor der Zukunft auch der Frust. Tafel-Leiterin Pat Fitzsimons fasst es so zusammen: „Die Politiker der Konservativen Partei verstehen offenbar überhaupt nicht, wie die Menschen in Großbritannien leben, wie es ihnen geht.“

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