Corona, Klimawandel, KriegHungersnot trifft Krisengebiete mit dreifacher Wucht

Lesezeit 7 Minuten
Hungersnot Tigray

Vertriebe aus Tigray stehen Schlange, um Lebensmittel zu erhalten.

  • Die Welt wollte den Hunger ausrotten, doch er kehrt jetzt zurück, mit dreifacher Wucht.
  • Klimawandel schafft neue Todeszonen, Corona macht alles teurer und Kriegstreiber setzen Hunger als Waffe ein.

Berlin – Verflixt. Das kann doch nicht wahr sein“, dachte der Entwicklungshelfer Kenneth Bowen, als er dieser Tage im Süden Madagaskars verblüffend vielen hungernden Menschen – Männern, Frauen, Kindern – in die hohlen Augen blickte: „Die sind alle schon in Stufe 5.“ Bowen ist seit vier Jahren in Madagaskar unterwegs, im Auftrag der Welthungerhilfe. Dürren im Süden der vor Ostafrika liegenden viertgrößten Insel der Welt gab es jedes Jahr. „Aber so groß wie jetzt war hier die Not noch nie“, berichtet Bowen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Hungernde gingen dazu über, Insekten, Lehm und lose Blätter zu essen. Solches Verhalten, wissen die Helfer, ist ein schlechtes Zeichen. Es kündet oft vom nahen Ende der Betroffenen. Es ist ein Stufe-5-Verhalten. Rund um die Welt haben sich die Hilfsorganisationen über fünf „Levels“ verständigt, die das Ausmaß von Nahrungsmittelknappheit beschreiben.

Fünf Stufen des Hungers

In Stufe 1 („Minimal Insecurity“) läuft alles noch halbwegs rund, Helfer raten in solchen Phasen zur Absicherung mit Lebensmitteln für Krisenzeiten. In Stufe 2 („Stress“) wackelt die Versorgung mit Lebensmitteln, Betroffene wenden Tricks an, um noch an Nahrung zu kommen. In Stufe 3 („Crisis“) fangen Familien an, lebenslang Erspartes für Lebensmittel herzugeben. In Stufe 4 („Emergency“) beginnen die ersten Phasen medizinisch messbarer Unterernährung. Stufe 5 („Famine“) heißt Alarmstufe Rot: Hungersnot. Die Betroffenen sind massiv geschwächt, ohne Eingriff von außen ist ihr Tod nicht mehr fern. In dieses dramatische Stadium sind in den letzten paar Wochen allein in Bowens Zuständigkeitsgebiet im Süden Madagaskars 14 000 Menschen hineingeraten. In den Stufen 3 bis 4 rangieren dort 1,2 Millionen Menschen.

Bowen hat schon viel Elend gesehen, etwa in der Bürgerkriegsregion Darfur im Westen des Sudans. Madagaskar aber löst derzeit selbst bei erfahrenen Helfern einen besonderen Grusel aus.

„Es gibt hier auf der Insel keinen Konflikt“

„Es gibt hier auf der Insel keinen Konflikt“, betont Lola Castro, Regionaldirektorin vom UN-Welternährungsprogramm. „Und genau das ist das Alarmierende.“ Allein der Klimawandel mache aus hilflosen Menschen stille Wesen aus Haut und Knochen: „So etwas Schlimmes habe ich noch nie gesehen.“ Auch sie ist eine Veteranin in der Hungerhilfe, seit 28 Jahren. Der Fall Madagaskar: Hunger als Klimafolge Der Klimawandel kennt keine Gerechtigkeit, er trifft die Ärmsten am härtesten.

Die wohlhabenden Kanadier mussten nicht hungern, als jüngst an ihrer Pazifikküste nie da gewesene 49 Grad gemessen wurden. Die „Hitzekuppel“ setzte Wälder und ein Dorf in Brand, verschwand aber bald wieder. Der Regen ist längst zurückgekehrt nach Vancouver. Im Süden Madagaskars dagegen machte monatelang die stärkste Trockenheit seit 40 Jahren ganze Landstriche zu Toast – mit Effekten, die man auf der reichen Nordhalbkugel gar nicht kennt: „Pflanzen“, sagt Helfer Bowen, „zerfallen dann einfach zu Staub.“

Klimawadel verstärkt Hungersnöte

Extremwetterlagen gefährden die Ernährung der Menschen in immer engerem Takt und an immer mehr Orten der Erde. Mal fehlt der Regen ganz, mal überflutet er die Felder. Auch die Fauna gerät durcheinander. Quer durch Ostafrika verdüstern mitunter gigantische Heuschreckenschwärme den Himmel. Im Norden Kenias starben letzte Woche plötzlich Hunderte von Rindern an Wassermangel – die Zentralregierung in Nairobi gab Hungeralarm und sieht plötzlich drei Millionen Menschen in Gefahr.

Das könnte Sie auch interessieren:

Was ist da los? „Ein Planet wird geplündert – die Schreckensbilanz unserer Politik“ hieß ein Bestseller des Schwarz-Grün-Vordenkers Herbert Gruhl, das im Jahr 1975 erschien. Zahlt der Planet es heute der Menschheit heim? David Beasley, Chef des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, fürchtet, dass sich in diesem Jahr weltweit „der perfekte Sturm“ zusammenbraut. Vor einem Kreis von Politikern aus G-20-Staaten warnte Beasley jüngst vor einer globalen Hungerkrise „von biblischen Ausmaßen“. Als linksgrünen Spinner kann man Beasley nicht abtun, der Amerikaner ist absolut „down to earth“, er war zuvor Gouverneur von South Carolina und gehört zu den Republikanern.

Tatsächlich addieren sich gegenwärtig drei unheilvolle Faktoren: Klima, Kriege und Corona.

In Afghanistan etwa trieben Extremwetterlagen in jüngster Zeit bereits mehr Einwohner in die Flucht als die Angst vor Krieg und Terror. Der Krieg selbst aber, klassischer Treiber des Hungers, hört nicht auf: Gerade laden die Taliban die Waffen durch, sie wollen den Abzug der Nato nutzen, um baldmöglichst eine islamistische Diktatur zu errichten. Als sei beides noch nicht schlimm genug, schießen coronabedingt die Preise für Lebensmittel in nie da gewesene Höhen – und machen aus Afghanen, die eben noch auf ein kleines, aber auskömmliches Einkommen blickten, Hungerleider – allein durch den Kaufkraftverlust.

„Corona ist zum Hungervirus mutiert“

„Corona ist zum Hungervirus mutiert“, sagt Marlehn Thieme, Chefin der Welthungerhilfe in Bonn. Von einem weltweit wirksamen „Brandbeschleuniger“ sprechen die Hilfsorganisationen.

Afghanistan lässt immerhin noch internationale Hilfe ins Land – solange jedenfalls die afghanische Zentralregierung noch existiert und den Hamid Karzai International Airport in Kabul offen halten kann.

Andere Staaten dagegen machen bereits dicht: Hilfe von außen stört oft die Pläne von Machthabern, Feinde im Inneren durch eine Politik des Aushungerns zu besiegen. Syriens Machthaber Baschar al-Assad zum Beispiel, der im Bürgerkrieg schon viele Städte abschnüren ließ, will jetzt endlich auch die Rebellenhochburg Idlib in einen letzten Würgegriff nehmen. Dass solche Praktiken international geächtet sind, kümmert Assad ebenso wenig wie seinen internationalen Schutzherrn, den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Der Fall Syrien: Hunger als Verhandlungsmasse Russland droht damit, am 10. Juli den einzigen direkten Hilfszugang zu sperren, den es in Syrien noch gibt. Er führt aus der Türkei über den Grenzort Bab al-Hawa in die Rebellenregion Idlib. Derzeit laufen täglich Dutzende Lkw-Transporte der UN über diese Route, sie bringen Lebensmittel, Kindernahrung, Medikamente und neuerdings auch Corona-Impfstoff in die Region Idlib, wo rund vier Millionen Menschen leben, die Hälfte davon in Zelten, als Binnenflüchtlinge.

Ärgerlich für Assad: Seine Truppen sind nicht befugt, die über Bab al-Hawa anrollenden Hilfslieferungen zu stoppen. Denn Rechtsgrundlage für den humanitären Hilfskorridor ist ein Beschluss des UN-Sicherheitsrats.

EU und USA wollen das UN-Mandat über den 10. Juli hinaus verlängern. Putin aber kann eine Verlängerung sogar im Alleingang verhindern, Russland ist Vetomacht im Sicherheitsrat. Zudem ist China bereit, Moskau zu unterstützen. Im Ergebnis könnten Assad und Putin dann Idlib aushungern. Schon der Gedanke daran schnürt Betroffenen in diesen Tagen den Hals zu.

Hunger schürt Angst

„Die Leute hier haben jetzt eine Angst, wie ich es noch nie erlebt habe“, sagt Joel Ghazi, Projektleiter bei der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Die psychischen Folgen der dauernden Drohungen vor dem 10. Juli würden unterschätzt, warnt er: „Es ist so, als ob ich dauernd zu jemandem sage: „Guck, ich schneide dir bald deine Lebensader ab. Früher noch als der Mangel an Brot wird der Mangel an Medikamenten die Menschen in Idlib in die Panik treiben. Es gehe nicht nur um die häufig mit Kriegsgebieten assoziierten Betäubungsmittel oder Desinfektionsmittel für Operationen. „Auch für so banal erscheinende Dinge wie Bluthochdruck reichen die Reserven allenfalls vier Wochen“, sagt Ghazi. „Danach geraten die Betroffenen in Gefahr.“

Russland argumentiert, jede Form von Hilfe könne und solle künftig über die syrische Zentralregierung laufen. Ghazi winkt ab: „Dass das in einem Bürgerkrieg nicht funktioniert, haben wir in Syrien oft genug erlebt.“

Derzeit hoffen westliche Diplomaten noch auf eine Last-Minute-Lösung zum Offenhalten des Grenzübergangs Bab al-Hawa – für die Putin aber gewiss etwas verlangen werde von den USA und der EU. Hunger als weltpolitische Verhandlungsmasse: Das ist eine neue, besonders ausgefeilte Spielart des Umgangs mit dem Thema.

Hunger als Waffe in Tigray

Der Fall Tigray: Hunger als Mordwerkzeug Äthiopien bietet dem sprachlosen weltweiten Publikum unterdessen eine neue Lehrvorführung zu einem eher stumpfen Vorgehen: Massenmord durch Hunger. Die Rebellenprovinz Tigray wurde von Truppen der Zentralregierung in Addis Abeba abgeriegelt. Beteiligt sind auch Kämpfer aus dem nahen Eritrea. 400 000 Menschen hungern inzwischen akut, 1,8 Millionen sind von Hunger bedroht.

„Es gibt in Tigray keinen Hunger“, sagt Äthiopiens Premier Abiy Ahmed – dem groteskerweise im Jahr 2019 der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde, bevor er im November 2020 seine Truppen in den Krieg schickte. Journalisten der Nachrichtenagentur Associated Press, denen es gelang, in die Region vorzustoßen, berichteten, dass äthiopische und eritreische Soldaten Lastwagen mit Nahrung stoppen, Saatgut stehlen, Bauern vom Pflügen abhalten und Vieh töten. Unicef-Helfer berichten von Attacken auf Brücken, Brunnen und Gesundheitsstationen.

Der Einsatz von Hunger als Waffe hat eine traurige Tradition. Josef Stalin schickte 1933 knapp vier Millionen Menschen in der Ukraine in den Hungertod. Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum spricht in ihrem 2019 erschienenen Buch „Roter Hunger“ von einem „geplanten Massenmord“.

Ähnliches läuft jetzt in Tigray. Und da Premier Abiy immer mehr Kritik hört aus den USA und aus der EU, will er sich nun stärker an Russland und China anlehnen. Denn diese beiden Mächte halten ein Prinzip hoch, das auch ihm sehr wichtig ist: Niemand soll sich einmischen „in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates“.

KStA abonnieren