Terrorexperte nach Hamas-Angriff im InterviewHat der israelische Geheimdienst versagt?

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Von der Hamas abgeschossene Raketen über dem Himmel von Israel

Von der Hamas abgeschossene Raketen über dem Himmel von Israel

Mehr als 2000 Raketen soll die Terrororganisation Hamas auf Israel abgefeuert haben. Wie kann es sein, dass Israel von dem Angriff so überrascht war? 

Der schwere Raketenangriff der Terrororganisation Hamas auf Israel hat weltweit Bestürzung hervorgerufen. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) erklärt Peter R. Neumann, welches Ziel die Hamas verfolgen und warum sich die Eskalation bereits angedeutet hat. Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King‘s College London und Gründer des International Centre for the Study of Radicalisation, das zu den weltweit führenden Forschungsinstituten im Bereich der Terrorismusforschung zählt.

Israel ist nach eigenen Angaben von dem schwersten Raketenangriff seit vielen Jahren regelrecht überrascht worden. War das ein Versagen des israelischen Geheimdienstes?

Die israelischen Geheimdienste haben diese Situation eindeutig falsch eingeschätzt, denn dieser Angriff muss monatelang im Voraus vorbereitet worden sein. Diese Offensive, genau 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg, hätte niemanden überraschen müssen. Seit einiger Zeit gab es Geraune in palästinensischen Gruppen, dass es bald zu einer größeren Aktion der Hamas kommen wird. Bisher hatte man immer geglaubt, dass die Israelis den Gazastreifen nachrichtendienstlich zu 120 Prozent durchdrungen hätten. Beobachter gingen davon aus, dass jedes Gespräch abgehört und ausgewertet wird. Israel hat wohl Hunderte Informanten in den verschiedenen Fraktionen der Hamas und bekommt sonst alles mit. Jetzt wird man sich ernsthaft fragen müssen, was schiefgegangen ist.

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Ist diese Eskalation des Konflikts denn wirklich überraschend?

Nein, in den vergangenen Wochen hat sich die Eskalation bereits angedeutet und die Situation immer weiter zugespitzt. Es gab intensive Gespräche zwischen verschiedenen Terrororganisationen und ihren Unterstützern. Aber dass dieser Angriff so großflächig und – aus der Sicht von Hamas – so erfolgreich verlaufen würde, das ist tatsächlich überraschend. Mir fällt kein Angriff der letzten 20 Jahre ein, bei dem so viele Israelis an einem Tag getötet und verwundet wurden. Die Enormität des jüngsten Angriffs ist eine große Provokation für Ministerpräsident Netanjahu, der sich immer als Garant für die Sicherheit der Menschen in Israel dargestellt hat.

In den vergangenen Wochen hat sich die Eskalation bereits angedeutet und die Situation immer weiter zugespitzt
Peter R. Neumann, Terrorismusforscher am King’s College London

Im Westen gilt die Hamas als palästinensische terroristische Bewegung. Wie ticken die Hamas?

Es handelt sich um eine sunnitische Terrororganisation, die 1987 aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Sie ist zunehmend vom Iran abhängig, der inzwischen ihr Hauptsponsor ist, auch wenn sie – anders als beispielsweise die libanesische Hisbollah – nicht vom Iran gegründet oder gesteuert wird. Trotzdem sind die strategischen Überlegungen des Iran als ihr größter Unterstützer für die Hamas sehr wichtig. Das sehen wir auch bei diesem schweren Angriff.

Inwiefern?

Wenn es überhaupt irgendein strategisches Kalkül dieser Aktion gab, dann ist es wahrscheinlich das Bemühen des Iran, die Normalisierungsbestrebungen zwischen den arabischen Staaten und Israel zu stören oder gar zum Erliegen zu bringen. Das könnte ich mir als strategisches Ziel dieses Angriffs gut vorstellen.

Verfolgt die Hamas denn weiterhin ihr ausgerufenes Ziel, den Staat Israel zu vernichten?

Wir beobachten schon seit einigen Jahren, dass die Hamas eine nur auf sich selbst bezogene Gruppe geworden ist. Wenn man ehrlich ist und von außen darauf schaut, verfolgt sie nicht mehr wirklich das Ziel, Israel zu besiegen und einen palästinensischen Staat zu gründen. Es geht der Hamas vor allem darum, die eigene Macht zu erhalten. Macht über die Palästinenser. Dazu setzt sie immer wieder die Spirale der Gewalt in Gang, die den Palästinensern überhaupt keine andere Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Interessen lässt. Denn Israel schlägt zurück, die Palästinenser hassen Israel noch mehr und die Hamas erhält eine noch größere Unterstützung aus den palästinensischen Reihen. Der einzige Gewinner ist die Hamas, die nach wie vor die Macht und die Kontrolle über die Palästinenser hat.

Es geht der Hamas vor allem darum, die eigene Macht zu erhalten. Macht über die Palästinenser
Peter R. Neumann, Terrorismusforscher am King’s College London

Die Hamas dürften auch keine Chancen haben, gegen das israelische Militär zu gewinnen.

Genau, und trotzdem versuchen die Hamas seit 20 Jahren immer wieder, Israel militärisch unter Druck zu setzen. Ein Gegner, der hundertmal stärker ist als sie selbst. Mit jedem dieser Versuche sind das palästinensische Territorium und der politische Spielraum für die Palästinenser kleiner geworden – und den Menschen geht es schlechter. Hinzu kommt, dass es in der Hamas Personen gibt, die von dieser Situation politisch und finanziell profitieren.

Wie groß ist der Rückhalt der Hamas im Gazastreifen?

Da es keine unabhängigen Umfragen im Gazastreifen gibt, ist eine Antwort sehr schwierig. Der Ansatz der Muslimbruderschaft war aber schon immer, die Gesellschaft von der Basis aus zu islamisieren. Dazu gehört, dass man Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser betreibt und mit einer Wohlfahrtsorganisation ärmere Menschen unterstützt– und das macht die Hamas sehr konsequent. Deshalb hat sie auch einen gewissen Rückhalt. Dieser Ansatz schafft auch Probleme für den Westen: Wenn Deutschland beispielsweise eine Schule im Gazastreifen unterstützen will, wird diese höchstwahrscheinlich von der Hamas betrieben. Da Israel zurückschlägt, wird das den Rückhalt der Hamas erhöhen. Wie auch in der Vergangenheit wird sich die Gruppe als Verteidiger der eigenen Bevölkerung inszenieren. Das ist ein tragischer Zyklus.

Mehr als 2000 Raketen sollen am Samstag abgeschossen worden sein. Wie gut sind die Hamas ausgerüstet und woher erhalten sie die Waffen?

Die militärische Ausstattung der Hamas wird immer besser. Das ist eine Konsequenz aus der engen Zusammenarbeit mit dem Iran. Einige Raketen stellt die Terrororganisation selbst her. Die richtig guten und modernen Raketen mit einer Reichweite bis nach Jerusalem stammen aber aus dem Iran. Das iranische Regime führt hier einen Stellvertreterkrieg und kämpft gegen Israel, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Gegenüber den eigenen Anhängern kann der Iran sagen: Schaut her, wir sind die Widerstandsfront und tun etwas gegen Israel. Gleichzeitig kann das Regime behaupten, wir haben mit alldem nichts zu tun.

Das iranische Regime führt hier einen Stellvertreterkrieg und kämpft gegen Israel, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen
Peter R. Neumann,Terrorismusforscher am King’s College London

Gibt es noch weitere Unterstützer der Hamas?

Es gibt eine sehr enge Zusammenarbeit mit Hisbollah, die noch professioneller als Hamas agieren und über ein viel größeres Waffenarsenal verfügen. Diese strategische Allianz zwischen den sehr unterschiedlichen Gruppen wäre vor 30 Jahren noch undenkbar gewesen. Frühere Unterstützer, also die Golfstaaten, haben sich inzwischen von der Hamas abgewendet und Frieden mit Israel geschlossen oder stehen kurz davor, wie Saudi-Arabien. Von denen können die Hamas keine Waffen mehr erwarten.

Vertreter der Hamas waren letztes Jahr zweimal zu Besuch in Moskau. Stärkt auch Russland die Hamas?

Die Russen sind genau wie die Chinesen sehr vorsichtig, sich in diesem Konflikt zu positionieren. Sie wollen sich alle Optionen offenhalten. Da viele russische Juden nach Israel ausgewandert sich, gibt es sehr enge Beziehungen zur Regierung in Jerusalem.

Ist dieser Angriff ein Aufflammen eines größeren Krieges, der auch auf andere Staaten übergreifen könnte?

Die großen Staaten im Nahen Osten haben kein Interesse an einem Flächenbrand, auch der Iran nicht. Er hat an vielen Fronten gerade Probleme und will auch nicht die letzten Verbindungen mit dem Westen abbrechen. Die Wahrscheinlichkeit eines Flächenbrandes ist aus meiner Sicht daher eher gering.

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