Gegenoffensive, Mobilmachung, WaffenWie geht der Krieg in der Ukraine weiter?

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25.05.2023, Ukraine: Ukrainische Soldaten nehmen an einer Militärübung in einem Stützpunkt außerhalb von Kiew teil. Soldaten der regulären Infanterie der ukrainischen Streitkräfte erhalten eine intensive medizinische Ausbildung durch Freiwillige der Prytula-Stiftung. Die Ausbilder der Stiftung werden von Experten in der westlichen medizinischen Ausbildung nach NATO-Vorbild geschult. Die Soldaten auf dem großen Militärstützpunkt simulieren die Bedingungen an der Front, leben im Wald und heben über lange Zeiträume Gräben aus.

Ukrainische Soldaten nehmen an einer Militärübung in einem Stützpunkt außerhalb von Kiew teil.

Seit Monaten bereitet sich die Ukraine auf die groß angekündigte Gegenoffensive vor – der Druck ist enorm. Können sie mit den neuen Waffen einen durchschlagenden Erfolg erzielen? Gleichzeitig rüsten auch die Russen massiv auf. Wie geht der Krieg weiter?

„Feuerwerk für die Russen“, so nennen die Ukrainer die Gegenoffensive. Schon vor Monaten haben die Regierung in Kiew und hochrangige Militärs die Großoffensive angekündigt. Die Erwartungen sind hoch: Der Westen hat der Ukraine Waffen und Munition in Milliardenhöhe geliefert, Tausende ukrainische Soldaten ausgebildet und allen ist klar, dass der weitere Kriegsverlauf vom Ausgang dieser Offensive abhängt.

„Es gibt immer noch Kräfte, die für die Gegenoffensive trainieren“, sagt der frühere Verteidigungsminister der Ukraine, Andriy Zagorodnyuk, auf einer Veranstaltung des Atlantic Council. Außerdem warte man weiter darauf, dass der Boden trocken wird.

Das Warten auf die Gegenoffensive zermürbt die russischen Soldaten ebenso wie die ukrainischen Streitkräfte. Die Kämpfe um Bachmut seien, wenn sie überhaupt Teil des Gegenangriffs sein sollten, nicht der Höhepunkt der Offensive, stellt Zagorodnyuk klar.

Geolokalisierte Videoaufnahmen bestätigen, dass die Ukraine rund um Bachmut nur kleinere Einheiten zusammengezogen hat und keine ihrer zwölf Angriffsbrigaden, die mit westlichen Waffen ausgerüstet wurden.

„Wir haben der Ukraine nicht alles gegeben, was sie braucht“

US-General a. D. Wesley Clark blickt mit Hoffnung und Sorge gleichzeitig auf die kommenden Wochen. Die ukrainischen Streitkräfte hätten viele Trainingseinheiten im Westen absolviert. „Der Westen hat die ukrainischen Truppen so gut wie möglich vorbereitet.“ Aber man habe der Ukraine nicht alles gegeben, was sie braucht, räumt er ein. Besonders Waffen mit großer Reichweite, aber auch Kampfflugzeuge sind bisher eher Mangelware. Großbritannien hatte zuletzt aber mit Storm-Shadow-Marschflugkörper und Langstreckenangriffsdrohnen zumindest erste Waffen für Präzisionsangriffe aus der Ferne geliefert.

„Die Storm Shadows werden einen gewaltigen Unterschied machen“, sagt der frühere Verteidigungsminister Zagorodnyuk mit Blick auf die bevorstehende Offensive. Er verwies auf die Reichweite von bis zu 400 Kilometern und die Möglichkeiten, die diese Waffen der Ukraine nun bieten. „Die Russen haben nicht mit dieser Reichweite gerechnet. Wir beobachten, dass die russische Armee sich Kommando- und Kontrollpunkte verlagert.“

Diese Waffensysteme haben das Potenzial, in großer Zahl einen entscheidenden Unterschied zu machen.
Fabian Hoffmann von der Universität Oslo über Storm Shadows

Zuletzt sorgte die Lieferung von Himars-Raketen dafür, dass die russische Armee ihre Versorgungslinien, Munition- und Treibstofflager, Kommandostationen und Radaranlagen weiter ins Hinterland verlegen musste. Sie haben aber nur eine Reichweite von bis zu 150 Kilometern.

Die Storm Shadows können mit ihrer deutlich größeren Reichweite der Ukraine eine große Hilfe sein, so Raketenforscher Fabian Hoffmann von der Universität Oslo. „Diese Waffensysteme haben das Potenzial, in großer Zahl einen entscheidenden Unterschied zu machen“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Anders als bei Himars-Raketen ist Russland bisher auch noch nicht in der Lage, die Storm Shadows abzufangen. Mindestens sieben erfolgreiche Angriffe mit den britischen Marschflugkörpern sind dokumentiert – Tests für die Großoffensive. Die russische Flugabwehr ist effektiv gegen ukrainische Kampfflugzeuge, so Hoffmann, hat aber Probleme mit kleineren Zielen wie Marschflugkörpern. „Deshalb sind die Storm Shadows eine große Hilfe für die Ukraine.“

Russen müssen auf neue Waffen reagieren

Nachdem die Russen ihre Depots und Stützpunkte außerhalb der Reichweite der Himars-Raketen verlegt haben, setzt die Ukraine die Himars nun vor allem als taktische Waffe gegen Ziele direkt an der Frontlinie oder knapp dahinter ein. „Mit Angriffen auf Truppenkonstellationen, Panzer und Artilleriestellungen in der Nähe der Frontlinie will die Ukraine direkten Einfluss auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld nehmen“, erklärt Hoffmann.

Allerdings ist es für die Ukraine schwieriger geworden, die Frontlinie zu durchbrechen. Über Monate hinweg haben die Russen ihre Verteidigungsstellungen in den eroberten Gebieten ausgebaut. Laut einer Studie des britischen Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI) wurden große Minenfelder mit Antipersonen- und Antipanzerminen angelegt, wobei verschiedene Minentypen geschickt platziert wurden, um es der Ukraine schwer zu machen, die Minen zu entdecken und zu entschärfen.

Darüber hinaus wurden starke Befestigungsstellungen mit Panzergräben, Drachenzähnen und Bunkeranlagen errichtet, um Angriffe der Ukraine abzuwehren. Satellitenbilder zeigen ausgedehnte Gräben und gut ausgebaute Verteidigungsanlagen in beinahe allen Teilen der besetzten Gebiete. „Die Tiefe der Verteidigungsanlagen hat zufolge, dass die Ukraine eine erhebliche Kampfkraft aufbringen muss, um die russischen Linien zu durchbrechen, und das Ausmaß der russischen Verteidigungsanlagen entlang der Front macht es nahezu unmöglich, sie zu umgehen“, heißt es in dem Bericht.

Was bringen die Verteidigungsstellungen wirklich?

Der frühere ukrainische Verteidigungsminister Zagorodnyuk glaubt nicht, dass die „sehr simplen Befestigungen“ die Streitkräfte der Ukraine ausbremsen können. „Sie wurden ziemlich planlos errichtet und es ist falsch zu glauben, dass sie ein entscheidender Faktor bei der Gegenoffensive sein werden“, sagt er. Immerhin habe die Front eine Länge von 1200 Kilometern und es sei „absolut unmöglich“, alle Stellungen mit Personal zu besetzen.

Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) teilt diese Einschätzung. „Die Verteidigungsstellungen werden für die Ukrainer dort ein Hindernis, wo die Russen sie mit Personal besetzen können“, sagt der Experte dem RND. Die Russen hätten aber nicht genügend Kräfte, um alle Stellungen durchgehend zu besetzen. „Wenn die ukrainischen Streitkräfte die erste Linie durchbrechen, dann beginnt das Rennen gegen die Zeit“, erklärt Gressel. „Wenn die Ukrainer auch bis zur zweiten Linie vorrücken können, ist der Vorstoß geglückt.“ Sollten die Russen allerdings schnell Kräfte vor Ort haben, könnten sie den Vorstoß der Ukrainer aufhalten.

Die ukrainische Armee wird wohl einmal mehr auf Täuschungsmanöver und Überraschungsangriffe setzen, um sich einen Vorteil zu verschaffen und bei der Gegenoffensive schnell vorzustoßen. Bereits im Raum Charkiw war sie mit dieser Taktik im Herbst erfolgreich und konnte russische Einheiten in die Flucht schlagen.

Gegenoffensive nördlich von Mariupol?

Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer hält einen Vorstoß für die Gegenoffensive bei Mariupol für geeignet, um den Zugang zum Asowschen Meer herzustellen. „Die besetzten Gebiete bilden dort nördlich von Mariupol die schmalste Stelle, die einen Angriff erleichtert“, sagt Reisner dem RND. „Die Ukraine könnte ein Ablenkungsmanöver im Norden und Süden starten und dann die Russen mit einem Vorstoß nach Mariupol überraschen.“ An dieser Engstelle sei der Abstand zwischen der Frontlinie und dem Asowschen Meer am geringsten. Hinzu kommt ein weiterer Vorteil: Die Verteidigungsstellungen in diesem Gebiet sind nicht so stark ausgebaut, so Reisner, wie beispielsweise nördlich von Melitopol. Dies belegen auch Satellitenbilder aus der Region.

Und die Russen? „Entscheidend bei der Beurteilung der Stärke der russischen Streitkräfte ist ihre Moral“, so die RUSI-Studie. Die Moral sei niedrig, das Personal rotiere nur selten und „die gesamte Truppe ist stark ermüdet“. Eigentlich sollten die russischen Einheiten daher schnell zusammenbrechen. „In der Praxis scheinen sie aber in der Lage zu sein, sehr schwere Belastungen zu verkraften, ohne zusammenzubrechen.“ Allerdings gehen die Experten davon aus, dass die Einheiten bei der Verteidigung nur unterdurchschnittliche Leistungen erbringen werden.

Russlands neue Soldaten

Doch schon bald kommt Verstärkung: Etwa 120.000 neue Soldaten haben sich zwischen Januar und März für den Kriegsdienst verpflichtet. Da sie sich freiwillig gemeldet haben, gehen Beobachter davon aus, dass bei ihnen Moral und Motivation auch höher sind. Zuvor hatte der Kreml nach eigenen Angaben schon 300.000 zusätzliche Soldaten im Rahmen der Teilmobilmachung rekrutiert und trainiert. Sie werden ebenfalls nach und nach in den Einsatz in die Ukraine geschickt. Bisher haben sie vor allem die Verluste in den Einheiten aufgefüllt und eine frühere Rotation der eingesetzten Kräfte ermöglicht. „Vom Leutnant bis zum Feldwebel gibt es große Engpässe, weil viele hochrangige Kommandeure auf dem Schlachtfeld getötet wurden“, sagt der russische Ökonom und Oppositionspolitiker Wladimir Milow, der im Exil lebt.

Eigentlich müsste Putin eine neue Mobilmachung ausrufen, doch die neuen Soldaten wären erst im September ausgebildet und kampfbereit. Der Kreml fürchte laut Milow, es könnten bei einer erneuten Mobilmachung Unruhen im Land ausbrechen und ein weiteres Mal viele Russen die Flucht ergreifen. „Sollte der Kreml trotzdem eine große Mobilisierungswelle starten, dann wohl aus Verzweiflung, weil die Armee bei der ukrainischen Gegenoffensive erhebliche Verluste erleidet.“ Ob Putin diesen Schritt wagt, ist ungewiss. (RND)

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