An Coronavirus gewöhnt„Die Leute befolgen die Regeln mit einer gewissen Müdigkeit“

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Die Corona-Zahlen bei einer pandemiemüden Bevölkerung. 

Die steigenden Infektionszahlen erfordern, dass wir uns strikter an die Coronaregeln halten – tatsächlich scheint die Bereitschaft zu sinken. Der Psychologe Dr. Johannes Leder erklärt im Interview, warum das so ist. Herr Dr. Leder, im ersten Lockdown waren die meisten Straßen verwaist und die Städte in Deutschland wie ausgestorben. Jetzt, wo die Zahlen eigentlich dreimal so hoch sind, tummeln sich trotzdem noch viele Menschen am Rheinboulevard. Wieso halten wir uns gefühlt weniger an die Corona-Regeln, obwohl die Infektionszahlen Rekordwerte erreichen? Johannes Leder: Im Frühling war die Bedrohung durch Corona etwas ganz Neues und damit besonders bedrohlich. Neue Risiken werden immer sehr viel stärker wahrgenommen als bekannte Risiken. Das sieht man auch gut in der Cosmo-Studie der Universität Erfurt: Dort stehen die Corona-Zahlen im Verhältnis zur Risiko-Wahrnehmung in der Bevölkerung. Was ich spannend finde: Im März, April 2020 hatten die Menschen ein großes Gefühl von Unsicherheit, eine starke Wahrnehmung von: Oh, das könnte für mich gefährlich werden. Im Mai, Juni fiel diese Risiko-Wahrnehmung ab, seitdem ist sie nicht so stark angestiegen wie im Blick zurück auf den vergangenen Frühling. Dabei hatten wir im Sommer kaum neue Fälle und jetzt sind die Zahlen sehr hoch. Inzwischen hat sich die Bevölkerung ein Stück weit an das Coronavirus gewöhnt.

Es ist also ein bekanntes Risiko geworden?

Genau. Wir erleben: Die Zahlen steigen und ich bin immer noch gesund, auch meine Liebsten sind noch gesund oder sind– sollten sie Corona gehabt haben – in den meisten Fällen wieder gesund geworden. Aus den Daten unserer Studie sehen wir auch: Wenn man jemanden kennt, der von Corona betroffen war und einen schweren oder gar tödlichen Verlauf hatte, dann halten wir uns strenger an die Regeln. Wenn die Person das gut überstanden hat, dann eher weniger. Die eigene Erfahrung und die von nahen Angehörigen prägt, wie wir die ganze Situation wahrnehmen. Es ähnelt der Alltagsbeobachtung: Hatten wir vergangene Woche einen Autounfall, fahren wir heute vorsichtiger.

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Dr. Johannes Leder, Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und psychologische Diagnostik an der Universität Bamberg

Trotzdem haben wir fast 80.000 Tote in Deutschland. Wenn man jetzt mal hochrechnet, wie viele Angehörige ein verstorbener Mensch hat, dann hatten trotzdem sehr viele Menschen die Gefährlichkeit dieser Krankheit vor Augen.

Nehmen wir mal an, jeder Tote hat drei Kinder. Dann sind das 240.000 direkt Betroffene, vielleicht auch 500.000. Bei 40 Millionen Erwachsenen ist das immer noch nicht so viel. Das objektive Risiko, an Corona zu sterben, ist auch nach RKI eher niedrig. Dadurch denkt man schnell: So schlimm ist das doch nicht. Wenn man das Argument umdreht ist es spannend, dass wir trotzdem so eine hohe Risikowahrnehmung haben, obwohl wir erleben, dass die meisten Menschen a) nicht sterben und b) nicht erkrankt sind. Jetzt zur Frage, wieso sich die Menschen nicht an die Regeln halten. Ich war gerade in der Innenstadt, um mir etwas zu Essen zu holen. Hier in Bamberg ist in der Innenstadt Maskenpflicht und die meisten Menschen tragen auch draußen eine Maske – obwohl niemand die Verstöße gerade ahndet. Ich glaube, dass die Ansicht „Oh, die Leute sind zu fahrlässig“ nicht hundertprozentig stimmt. Wir sehen schon, dass Menschen in der Öffentlichkeit die Regeln meist einhalten, problematisch scheint eher der Kontakt im privaten Bereich. Menschen passen ihr Verhalten zudem eigenen Erfahrungen an. Warnschilder bringen nicht so viel wie die persönliche Erfahrung eines Unfalls. Und Unfälle sind rein statistisch selten.

Sie haben im Jahr 2020 eine Studie zur Einhaltung von Schutzmaßnahmen der Covid-19 Pandemie in Deutschland durchgeführt. Dazu führten sie eine erste Befragung im Frühjahr durch und eine zweite im Juni. Was waren die zentralen Ergebnisse Ihrer Studie?

Die Teilnehmer haben die Schutzmaßnahmen sehr stark genutzt und sich gut geschützt. Wir haben uns auch gefragt: Sind die Leute überhaupt motiviert, andere zu schützen oder geht es eher um den Selbstschutz? Gerade zu Beginn der Corona-Pandemie wurde ja viel über Solidarität gesprochen. In unserer Studie zeigte sich, dass den Teilnehmern Maßnahmen zum Selbstschutz wichtiger sind als zum Schutz der anderen. Vieles, von dem die Leute denken dass es sie schützt, hilft aber auch anderen. Wenn ich zum Beispiel Maske trage, ist es nicht nur für mich, sondern auch für die anderen. Trotzdem: Was die Entscheidung primär prägt, ist der Selbstschutz, der Schutz der anderen scheint sekundär. Kommt es zu Konflikten zwischen meinem Schutz und dem der anderen – wie zum Beispiel für andere Menschen einkaufen – dann dominiert der Selbstschutz.

Sind wir also durch die Pandemie gar nicht solidarisch geworden sondern egoistisch?

Ich weiß nicht, ob wir egoistisch geworden sind. Aber unser Schutz hat Priorität, das Kollektiv ist erstmal zweitrangig. Das sieht man auch bei Studien zum Impfen: Leute verweigern die Impfung, weil diese Nebenwirkungen haben könnten. Gleichzeitig profitieren sie aber vom kollektiven Gut der Herdenimmunität. Man ist sich nicht so bewusst, was das eigene Handeln für das Kollektiv bedeutet.

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Gab es Ergebnisse in Ihrer Studie, mit denen Sie im Vorfeld nicht gerechnet hätten?

Die Schutzmaßnahme „soziale Distanz“ wurde in der zweiten Befragung als deutlich weniger wirksam empfunden als in der ersten Welle. Das hat uns sehr überrascht, weil die Zahlen ja aufgrund der sozialen Distanzierung erst gesunken sind. Deshalb hatten wir eher das Gegenteil erwartet: Dass die soziale Distanz in ihrer Wirksamkeitswahrnehmung steigt, stattdessen sank sie ab.

Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?

Eine mögliche Erklärung ist, dass man insgesamt die Krankheit als weniger riskant wahrnimmt. Die erste Welle war ja so eine Art beinahe-Unfall. Wir hatten dieses Schreckgespenst, diese Pandemie, und im Sommer hatten wir sie gefühlt überstanden. Daraus kann man zwei Schlüsse ziehen. Zum einen: Unsere Methoden waren wirksam, wir konnten den Unfall vermeiden. Der zweite: Der Unfall wäre sowieso nicht passiert, weil das alles ja nicht so schlimm ist. Wenn die Leute zu dem Schluss kommen, das Risiko war gar nicht so groß, dann können sie daraus schlussfolgern, dass die Maßnahmen nicht so wirksam waren.

Im Interview haben Sie das Leben der Menschen im Konflikt in Israel und Palästina als Beispiel herangezogen: Die Menschen gewöhnten sich dort schnell an die konstante Bedrohung. Vielleicht besuchen sie erstmal nicht das Café nebenan, aber kurze Zeit später gehen Sie ihrem Alltag doch ganz normal nach. Ist der Vergleich mit der Corona-Pandemie angemessen?

Ich denke schon. Was man bei der zweiten Intifada beobachten konnte gilt ja nicht nur für Israel. Sie zeigt sehr deutlich, welche Rolle Erfahrung bei der Wahrnehmung von Risiken spielt. Nach Anschlägen haben sowohl Touristen als auch die Lokalbevölkerung diese Orte gemieden. Die Locals kamen jedoch deutlich schneller zurück, weil ihre Erfahrung mit der Umgebung war: Es passiert ja nichts. Touristen hatten diese Erfahrung noch nicht gemacht. Auch nach den Anschlägen in London fiel die Benutzung der Underground erst massiv ab, aber nach einigen Tagen war sie wieder beim Normalniveau angekommen. Natürlich muss man sich fragen: Ist ein Terroranschlag vergleichbar mit einem länger andauernden Risiko, wie das bei der Intifada oder auch bei Corona der Fall ist? Man sieht jedoch, dass unsere persönliche Erfahrung prägt, wie wir uns in diese Situationen verhalten. Der Tourist kriegt nach dem Anschlag keine weiteren Informationen über den Ort, während der Local weiter Informationen sammelt. Für ihn zeigt sich immer wieder: Es passiert doch nichts.

Der Hildesheimer Professor Andreas Mojzisch hat untersucht, wie Menschen ihr eigenes Verhalten während der Corona-Pandemie im Vergleich mit dem ihres Umfeldes einschätzen. Hier konnten die Forscher den „Better than average“ Effekt erfassen: Die meisten Teilnehmer schätzten, dass sie sich besser an die Corona-Regeln halten als ihr Umfeld. Weckt diese Selbstüberschätzung die Gefahr, dass die Motivation, sich weiter an die Regeln zu halten sinkt? Von wegen: Ich mache doch schon viel mehr als andere, jetzt kann ich doch auch mal darauf verzichten?

Klar, die Gefahr besteht. Man könnte sich aber auch darin sonnen und sagen: Wow, ich mache mehr als alle. Ich gehöre zur Gruppe der verantwortungsvollen Bürger, wir sind besser als der Durchschnitt. Es kann in beide Richtungen gehen.

Die Zahlen steigen ja aber wieder. Bedeutet das, die Gruppe der verantwortungsvollen Bürger ist in der Minderheit?

Die Zahlen ähneln ja richtig schön einer Sinuskurve: Immer wenn die Maßnahmen verschärft werden, gehen sie nach unten, werden sie gelockert, steigen die Zahlen. Das zeigt, dass sich die Leute ja schon an die Regeln halten. Sie befolgen die Regeln mit einer gewissen Müdigkeit, aber sie machen es. Allein ein Anstieg der Zahlen heißt ja nicht im Umkehrschluss, dass die Menschen die Regeln brechen. Das ist eigentlich eine psychologisch spannende Unterstellung: Der, der Corona kriegt, muss irgendwie Schuld sein. Das machen wir bei einer Erkältung ja auch nicht.  

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