Fast 15 Prozent aller Frauen in Deutschland betroffen – unsere Autorin auch. Was die Erkrankung ausmacht.
Die belächelte KrankheitIch habe schon oft in meinem Leben Ausreden wegen Migräne erfunden

Die Linken-Politikerin Heidi Reichinnek hat öffentlich gemacht, dass sie unter schwerer Migräne leidet.
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Die erste Migräne meines Lebens hatte ich zu Beginn meiner Pubertät. Sie traf mich komplett unvorbereitet. Ich hatte plötzlich so starke, stechende Schmerzen in einer Hälfte des Kopfes, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Kurze Zeit später wurde mir übel, ich musste mich mehrfach sehr heftig übergeben. Danach ließ der Schmerz ein wenig nach, irgendwann schlief ich ein und am nächsten Morgen ging es mir wieder gut. Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter beim Frühstück verwundert war, dass ich sofort wieder ganz normal essen konnte. Sie dachte, ich hätte mir den Magen verdorben.
Es war meine erste Begegnung mit einer Erkrankung, deren Namen ich erst später erfahren sollte: Migräne. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich seit diesem ersten Mal in abgedunkelten Zimmern gelegen habe, nicht wissend, wie ich den Kopf am besten wenden soll, um den Schmerz irgendwie auszuhalten. Wenn ein Vorschlaghammer auf das Gehirn zu prallen scheint, ist auch an Schlaf, den man herbeisehnt, nicht zu denken.
Migräne: Wenn jedes Geräusch zu viel wird
Jedes Geräusch, jede Berührung ist dann eine zu viel. Ich bin zwischen Bett und Badezimmer gependelt, weil ich mich wieder und wieder übergeben musste, auch wenn längst nichts mehr im Magen war. Und manchmal bin ich einfach auf den Fliesen des Badezimmerbodens liegen geblieben, weil mir die Kraft fehlte, aufzustehen.
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Ich war und bin in solchen Momenten nicht in der Lage, klar zu denken. Ich leide anders als viele anderen Patientinnen und Patienten nicht unter einer Aura, die etwa mit Sehstörungen einhergeht, und hatte trotzdem manches Mal Probleme, sicher mit dem Fahrrad oder Auto nach Hause zukommen, wenn eine Attacke einsetzte.

Wer unter Migräne leidet, sieht sich oft mit Vorurteilen konfrontiert.
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Auch Heidi Reichinnek ist Migräne-Patientin. In einem Nebensatz hatte die Politikerin der Linken das erwähnt, als sie Ende April in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz saß und die Zahl der Mietwohnungen in Deutschland nicht benennen konnte, weil sie nicht immer jede Zahl parat habe und „weil ich heute unter Migräne leide“. Danach war sie gerade bei Social Media viel Häme ausgesetzt.
„Ich habe diese Erkrankung und sie belastet mich massiv. Viele Termine kann ich trotz Migräne nicht absagen und muss mir dann mit Medikamenten helfen“, sagte die 37-Jährige jetzt der „Rheinischen Post“. In diesen Fällen nehme sie ein „ein sehr starkes Mittel, das dazu führt, dass man sich nicht mehr so gut konzentrieren kann“.
Migräne hat nichts mit ein bisschen Kopfweh zu tun
Ich erahne, wie schwer sie es sich gemacht hat, darüber zu sprechen. Auch mir fällt es schwer, meine Erfahrungen so deutlich zu schildern. Und anders als Reichinnek stehe ich nicht in der Öffentlichkeit. Und ich bin auch keine Politikerin, der man nicht zugesteht, Schwäche zu zeigen. Es ist das alte Dilemma. Von Spitzenpolitikerinnen und -politikern wird regelmäßig gefordert, sich nahbarer zu zeigen, auch mal Schwächen zu offenbaren. Aber wenn sie es dann machen, wird ihnen statt Verständnis und Mitgefühl im besten Fall Häme, im schlimmsten Fall Hass entgegengebracht.
Man macht sich immer verletzlich, wenn man über eine Erkrankung spricht, aber Migräne ist nicht nur heimtückisch und macht ein normales Leben während einer solchen Attacke unmöglich, sie wird auch immer noch von vielen belächelt. „Ach, du hattest Kopfschmerzen?!“, ist eine Frage, die alle, die unter Migräne leiden, mehr als einmal gehört – und gehasst haben. Auch vermeintlich gute Ratschläge wie „Trink doch mal viel Wasser!“, „Geh an die frische Luft!“ oder „Nimm eine Aspirin, dann geht es bestimmt schnell besser!“ erhalten Betroffene regelmäßig ungefragt.
Migräne ist eine neurologische Erkrankung, die nichts mit ein bisschen Kopfweh zu tun hat. Laut einer Studie des Robert Koch-Instituts erfüllten 14,8 Prozent der Frauen und 6,0 Prozent der Männer in Deutschland alle diagnostischen Kriterien für Migräne. Weitere 13,7 Prozent der Frauen und 12 Prozent der Männer hätten wahrscheinliche Migräne, so die Erhebung von 2020.
Und in diesen Zahlen offenbart sich ein großes Problem, denn Frauen sind sehr viel häufiger betroffen als Männer. „Und wie oft werden Frauen nicht ernst genommen, wenn sie sagen, dass sie massive Kopfschmerzen haben“, sagte auch Reichinnek.
Wer Migräne hat, verdient Respekt und Verständnis
Ich habe schon oft in meinem Leben Ausreden erfunden, wenn ich Termine absagen musste, weil ich nicht sagen wollte, dass ich Migräne habe. Mein großes Glück ist es, dass sich die Krankheit bei mir über die Jahre abgeschwächt hat. Auch heute noch habe ich oft mehr oder weniger starke Spannungskopfschmerzen, Migräneattacken quälen mich jedoch nur noch ein- bis zweimal im Jahr. Aber ich leide mit allen, die oft mehrere Tage im Monat durch die Krankheit komplett aus ihrem normalen Alltag gerissen werden.
Wenn Sie wissen möchten, wie schlimm das sein kann, schauen Sie doch mal auf das Instagram- oder Tiktok-Profil von Sophia Theresia Quantius. Sie teilt dort mit Hunderttausenden Followerinnen und Followern, wie sehr sie die Krankheit einschränkt und wie groß der Leidensdruck ist. Bei ihr sind die Schmerzen mitunter so stark, dass sie bewusstlos wird. Auch ein Buch hat sie über ihre Geschichte geschrieben („Bombenkopf – Wie Migräne mich ausmacht“, Lübbe Life). Wer so stark unter Migräne leidet, kann sogar einen Schwerbehindertenausweis beantragen.
Jede Migräne ist anders, Symptome können sich in ihrer Ausprägung sehr unterscheiden. Manche Betroffene sind nach ein paar Stunden erlöst, andere quälen sich über Tage. Aber egal, wie stark und wie lange: Wer Migräne hat, verdient Respekt und Verständnis – und ganz sicher keine dummen Kommentare.
Anne Burgmer leitet das Kultur-Team des „Kölner Stadt-Anzeiger“.

