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Lotta lebt mit ME/CFSWie eine Krankheit eine 18-Jährige verschwinden ließ

13 min
Die Eltern, Julischka und Sebastian stehen am Küchentisch und schauen in die Kamera.

Julischka und Sebastian (beide 47) pflegen ihre 18 Jahre alte Tochter Lotta rund um die Uhr.

Die Kölnerin Lotta ist gerade 18 Jahre alt geworden. Feiern konnte sie nicht - seit eineinhalb Jahren liegt sie im abgedunkelten Zimmer. Ihre Eltern haben ihr Leben um eine Krankheit gebaut, die bislang nicht heilbar ist.

Lottas Tür ist geschlossen. Hinter ihr brennt kein Licht. Die Rollläden haben sich wie blickdichte Lider vor die Scheiben gestapelt. Nach oben gezogen hat sie seit Monaten niemand mehr. Wer die Kölner Familie besucht, muss sich anmelden, die Klingel ist abgestellt. Vor der Wohnungstür ziehen Gäste die Schuhe aus und schleichen auf Strümpfen den langen dunklen Flur entlang in die Küche.

Grelles Winterlicht flutet dort durch die großen Fensterfronten, auf der Kochinsel leuchten blutrote Rosen an ihren langen Stielen, über einer Kiste mit bunt verpackten Geschenken und schwungvoll unterschriebenen Karten, in der anderen Ecke schweben zwei goldene Luftballons - eine Eins und eine Acht. Von einer Fotocollage lachen Schwestern, ein noch verpacktes Nachtlicht in Form eines grinsenden Axolotl steht auf dem Fensterbrett. Zeugen eines Fests, an dem das Geburtstagskind selbst kaum teilgenommen hat. Die Rosen hat Lotta nie gesehen. „Der Duft wäre zu viel für sie“, sagt die jüngere Schwester. Und auch von den Geschenken hat sie nur ein einziges ausgepackt. Eine Kette mit vier Anhängern, von jedem Familienmitglied einen. Sie habe sich sehr gefreut. Vielleicht zu sehr? „Freuen ist anstrengend“, sagt Lottas Mutter Julischka. Jedes „zu viel“ macht Lottas Mutter Angst.

Denn Lotta (18) leidet an ME/CFS. Und jede Anstrengung kann ihren Zustand verschlechtern. Da machen die schönen Dinge keine Ausnahme: zu viel Bewegung, zu lautes Kichern, zu viel Licht, zu viel Kuscheln, zu viel Freude.

Nationale Dekade gegen Postinfektiöse Erkrankungen eingeläutet

Auf der Internetseite der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS steht: „Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronic Fatigue Syndrome ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt.“ Heilbar ist die Krankheit nicht, es können lediglich einige Beschwerden behandelt werden.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO listet ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung. Ausgelöst werden kann sie beispielsweise durch eine schwere Virusinfektion wie durch das Pfeiffersche Drüsenfieber, die Grippe oder Covid. Erst als nach der Corona-Pandemie immer mehr Fälle auftraten, begann man sich intensiver wissenschaftlich mit dem Leiden zu beschäftigen. Bisher konnten Fehlregulationen des Nerven-, Immun- oder Hormonsystems beobachtet werden. Untersuchungen deuten darauf hin, dass verschiedene Auslöser, auch in Kombination miteinander, zum Krankheitsbild führen können. Hypothesen befassen sich mit Veränderungen der Gen-Aktivität, mit Proteinanomalien der Hirnflüssigkeit und Zellschäden.

Vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung bekannt gegeben, in den kommenden zehn Jahren für die Forschung an postinfektiösen Erkrankungen 500 Millionen Euro bereitzustellen. „Wir benötigen eine langfristige Strategie, um die Ursachen und Mechanismen postinfektiöser Krankheiten besser zu verstehen und die Versorgung der Betroffenen nachhaltig zu verbessern“, sagte Forschungsministerin Dorothee Bär (CSU). Eingeläutet werde die „Nationale Dekade gegen Postinfektiöse Erkrankungen“. Das Ziel müsse sein, die Diagnose und Behandlung von ME/CFS so weit zu erforschen, um die Erkrankung bis spätestens Mitte der Dreißigerjahre heilen zu können, betonte Ex-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

Papiertüten mit Geschenken sind zu sehen, ein goldener Luftballon formt eine 18.

Reste eines Geburtstags, an dem die Jubilarin selbst gar nicht teilnehmen konnte: Lotta konnte nur ein Geschenk öffnen. Denn auch Freude kann für sie zu anstrengend sein.

Ein Schüleraustausch in London im Frühjahr 2024. Ein Musikprojekt. Lotta wird immer schwächer, verliert jede Kraft. Liegt nur noch im Bett. Ihre Augen schwellen an. Auf dem Rückweg in der Tube bricht sie zusammen. Pfeiffersches Drüsenfieber diagnostiziert die Klinik in Köln. Lotta erholt sich nicht. Im Mai ist sie so schwach, dass sie nicht mehr alleine laufen kann und einen Rollstuhl benötigt. Im Juni dann der Crash. Die Eltern sitzen mit ihren drei Töchtern in der lichtdurchfluteten Wohnküche und essen zu Abend. Die Teller sind noch nicht einmal halb leer, als Lotta aufsteht und sich auf das Sofa hinter dem Tisch legt. „Ich kann die Gabel nicht mehr halten“, hat sie nach Aussage ihrer Mutter gesagt. Überhaupt könne sie sich nicht mehr bewegen, sie habe keine Kraft. Herzrasen. Atemnot. Kreislaufzusammenbruch. „Sie konnte nicht mehr reden.“ Der Abend endet in der Klinik. Dort diagnostiziert man ein Fatigue, eine chronische Müdigkeit nach schwerer Virusinfektion. „Der Arzt hat uns und Lotta angelächelt und gesagt: Das wird schon wieder. Wir machen jetzt fleißig Physiotherapie, dann kriegen wir dich schon wieder auf die Beine“, berichtet Julischka. Lotta müsse nur mithelfen.

Lotta früher: Ein junges, rothaariges Mädchen lächelt in die Kamera.

Lotta war nach Aussagen ihrer Eltern ein quirliges und sehr sportliches Mädchen. Heute kann sie sich nicht mehr sitzen. Jeder Reiz kann einen Crash auslösen, der mit unerträglichen Schmerzen, Tinnitus und Panikattacken einhergeht.

Aber Lotta liegt. Sie kann nicht sitzen. Sie kann keine Musik hören. Sie kann nicht fernsehen, nicht telefonieren. Nach Monaten der Ungewissheit und einer Odyssee zwischen Ärzten, die den Eltern vor allem Ratlosigkeit, zuweilen aber auch Unverständnis mit auf den Weg geben, diagnostiziert eine Klinik in Wesel ME/CFS. Die Katastrophe hat nun immerhin einen Namen, die Symptome hält das nicht auf. Ärzte sprechen von neurokognitiver, autonomer und immunologischer Ausprägung. In Lottas Fall bedeutet das: Sogar kauen wird irgendwann unmöglich, weil jede Anstrengung das Leiden verschlimmert: Nervenschmerzen, unerträglicher Tinnitus, wie ein Flugzeugabsturz in den Ohren, beschreibt sie es gegenüber ihrer Mutter. Sie sieht nur noch in Pixeln. Sie magert ab. Sie ist komplett auf Pflege angewiesen. Viele Monate halten die Eltern sie über hochkalorische Trinknahrung am Leben. Aber auch davon bekommt sie Bauchschmerzen. Der Geruch frisch gewaschener Haare verursacht bei ihr zuweilen starke Übelkeit. Zwischenzeitlich verlangt es ihr alles ab, einen Finger zu bewegen. Manchmal erträgt sie nur die Gegenwart der Mutter und auch das nur für eine gewisse Zeit. Ein paar Sekunden Kichern mit der kleinen Schwester bringen sie an ihre Grenzen, die große Schwester darf höchstens mal den Kopf für ein „Ich hab dich lieb“ reinstecken, Freundinnen oder Großeltern hat Lotta seit fast zwei Jahren nicht gesehen. Auch Hausbesuche vom Arzt sind fast unmöglich. „Es gab Wochen, da durfte auch ich ihr Zimmer nicht betreten“, sagt Lottas Vater Sebastian. Jede Art von Reiz, auch die Gegenwart von Menschen, jede Hilfe, das Glück darüber und die Dankbarkeit dafür können Lottas Symptome ins Unerträgliche steigern und zum Zusammenbruch führen. Panikattacken, schreiende Nervenschmerzen. „Sie ist vollkommen isoliert.“ Dabei hat Lotta nach Aussage ihrer Mutter vor allem eins: Sehnsucht nach Menschen, nach ihrer Familie.  

Julischka übernimmt beim Erzählen der Geschichte ihrer Tochter den Hauptpart. Sie wirkt lebhaft, auch wenn um ihre Augen ein tiefer dunkler Schatten liegt. „Lotta hat einen rollierenden Schlafrhythmus. Derzeit wacht sie am frühen Abend auf.“ Ihre Mutter schultert die erste Schicht: Beim ersten Klingeln die ersten Tabletten. Beim zweiten Klingeln eine Suppe. Beim dritten Klingeln nochmal Medikamente. Beim vierten Klingeln ein bisschen Konversation und Körperpflege. Es ist dann schon nach Mitternacht. Julischka legt sich hin, wenn ihr Mann aufsteht und die Versorgung vor der Arbeit übernimmt. Es ist dann etwa fünf Uhr morgens.

Ich kann die Gabel nicht mehr halten, hat Lotta gesagt
Julischka, Mutter von Lotta

Weltweit sind laut Deutscher Gesellschaft für ME/CFS etwa 40 Millionen Menschen von der Krankheit betroffen, allein in Deutschland geht man von 650.000 Patientinnen und Patienten aus. Das sind fast dreimal so viele wie vor der Covid-Pandemie. Als seltene Erkrankung lässt sich die Diagnose damit nicht mehr beschreiben, als solche werden nur Krankheiten bezeichnet, die weniger als fünf von 10.000 Menschen betreffen. Bei ME/CFS sind es 80 Menschen auf 10.000. 158.000 beeinträchtigte Lebensjahre sammelt Deutschland laut WHO durch ME/CFS und damit fast dreimal so viel wie durch Multiple Sklerose. Die gesellschaftlichen Kosten für Deutschland schätzt die ME/CFS Research Foundation auf 63 Milliarden Euro im Jahr 2024.

Frauen ereilt die Krankheit dreimal häufiger als Männer, wer sich epidemiologische Daten aus Norwegen ansieht, erkennt zwei Altersgipfel bei Ausbruch: Mitte 30 und das Teenageralter. Die Symptome sind extrem variantenreich und betreffen unterschiedliche Organe, auch der Schweregrad variiert. Typisch für alle ist aber eine Post-Exertionelle-Malaise – PEM –, eine Verstärkung der Symptome nach geringer körperlicher und geistiger Anstrengung. Zähneputzen, Lesen, auch das Umdrehen im Bett oder die Anwesenheit einer weiteren Person im Raum kann einen dieser Zusammenbrüche auslösen. Muskelschmerzen, grippale Symptome, kognitive Störungen, Tinnitus. „Die Malaise tritt schon nach geringer Belastung wie wenigen Schritten Gehen auf“, schreibt die ME/CFS-Gesellschaft.

Es gibt Ärzte, die sprechen davon, dass keinerlei organische Auffälligkeiten bei ME/CFS-Patienten zu finden seien. Das Beschwerdebild nehme „teilweise anatomisch und physiologisch nicht erklärbare Formen“ an, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie in einer Stellungnahme. „Angesichts der bisherigen Erkenntnisse ist derzeit nicht davon auszugehen, dass immunologische Faktoren eine entscheidende Rolle bei ME/CFS spielen.“ Vielmehr vermutet man im Wesentlichen psychosomatische Faktoren. Studien zufolge würden psychische Vorerkrankungen wie Angst und Depressionen im Vorfeld beispielsweise einer Corona-Infektion das Risiko für Post-Covid erhöhen.

Neurologen vermuten, dass Patienten vor allem psychotherapeutisch geholfen werden kann

Der vielleicht bekannteste Verfechter dieser These ist Professor Christoph Kleinschnitz von der Uniklinik Essen. Der Neurologe glaubt, dass Long-Covid und ME/CFS-Patienten nach einer grundsätzlichen körperlichen Diagnostik, mit Hilfe derer andere Erkrankungen ausgeschlossen wurden, vor allem über den psychologisch-seelischen Weg geholfen werden kann – und kritisiert das Versagen der eigenen Zunft. „Wir Ärzte haben in vielen Fällen zu lange gezögert, diese Patienten in die richtigen Psychotherapien zu vermitteln. Das liegt auch daran, dass es in Deutschland an Therapieplätzen mangelt. Nun hat sich die Krankheit bei einigen Menschen chronifiziert, was eine Heilung deutlich erschwert.“ Befunde anderer Forschergruppen, die Veränderungen in der Gehirnstruktur nachweisen konnten, hält er für unklar und unzureichend validiert. Kleinschnitz betont, dass er den Leidensdruck der Patienten sehr ernst nimmt. „Das sind keine Simulanten, die Symptome sind ohne Zweifel vorhanden. Ich glaube nur, dass man therapeutisch im psychologischen Bereich ansetzen muss und am Ende keine Tablette hilft.“

Krankheit wird psychologiesiert

Wer bei der Familie zu Gast ist und sich nach der psychischen Disposition von Lotta erkundigt, der spürt eine gewisse Frustration. Es ist nicht so, dass die Eltern eine seelische Erkrankung weniger Ernst nehmen würden. Sie haben Lotta diesbezüglich auch untersuchen lassen. Eine Diagnostik in der Klinik in Wesel habe eine Depression oder dergleichen aber ausgeschlossen. Dennoch treffen Julischka und Sebastian immer wieder auf Menschen, auch Ärzte, die Lottas Krankheit psychologisieren. Die Eltern fühlen sich gezwungen, das grundsätzlich heitere Gemüt ihrer Tochter immer wieder unter Beweis zu stellen. „Sie ist ein absoluter Familienmensch, sie war quirlig, sportlich, immer lustig, nie war ihr etwas zu viel. Auch heute ist sie sehr optimistisch und davon überzeugt, dass sie wieder gesund wird“, sagt Julischka. Das System zwingt die Eltern in einen zusätzlichen Kampf, der sie ermüdet.

Die Eltern Julischka und Sebastian sitzen am Tisch in einer Gesprächssituation.

Lottas Eltern haben ihr Leben um die Krankheit ihrer Tochter gebaut. Julischka sagt: „Lotta fragt mich jeden Tag: Was hast du heute gemacht? Aber ich bin kein gutes Tor zur Welt. Denn auch ich erlebe nichts.“

Vielleicht wundert es den ein oder anderen, dass viele Betroffene einem psychiatrischen Zusammenhang so vehement entgegentreten. Schließlich ist das eine Leiden nicht weniger wert als das andere. Auch Depressionen oder eine Magersucht sind lebensbedrohlich. Sieht man sich die Geschichte der Erkrankung ME/CFS genauer an, erahnt man dennoch einen Grund für die Ablehnung. Denn die Psychologisierung wurzelt tatsächlich in einer Geringschätzung. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist es her, dass die Diagnose erstmals von der WHO klassifiziert wurde. Immer wieder kam es zu Ausbrüchen nach Virusinfektionen, immer wieder waren in der Mehrzahl Frauen betroffen, immer wieder schloss man daraus, dass es sich wohl um eine „Massenhysterie“ handle, schließlich neigten Frauen im Allgemeinen zu derlei Zuständen. Nun könnte man den diskriminierenden Unterton souverän in die Schublade „So war das halt früher“ stecken und weiter kein Wort mehr darüber verlieren. Wäre es nicht so, dass die Krankheit in dieser Schublade seit 50 Jahren auch weitgehend abgeschlossen von der medizinischen Forschung vor sich hinvegetierte. Und damit bedeutet eine Infragestellung einer primär somatischen Bedingtheit der Erkrankung für Betroffene eine Gefahr. Sie könnte die bescheidenen Erfolge in der Medikamentenforschung wieder zunichte machen.

Und wirksame Medikamente schweben über dem abgedunkelten Leben vieler Betroffener wie weit entfernt leuchtende Galaxien. Bislang greift man nach jedem Funkeln, sei die Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit noch so gering: Off-Label-Medikamente, Blutwäsche, Magnesium-Sauerstofftherapie, Heilpraktiker, Nahrungsergänzungsmittel. Hämolaser. 40.000 Euro haben Lottas Eltern für derlei Hoffnungsschimmer ausgegeben. Denn die Long Covid Ambulanzen für Kinder und Jugendliche empfehlen derlei zwar, die Krankenkassen übernehmen die Kosten dafür allerdings nicht oder nur teilweise.

Ich glaube, die meisten Betroffenen bleiben schlicht zu Hause und sind damit für das medizinische System praktisch unsichtbar
Johanna Sasse, Elterninitiative „ME/CFS-Kinder“

Die Bereitschaft, tausende von Euro zu investieren, ist umso größer in einer Umgebung, in der es an medizinischer Hilfe aus Sicht der Patienten dramatisch mangelt.

Johanna Sasse, Vorsitzende der Elterninitiative „ME/CFS-Kinder“, kritisiert, dass es für ihre Kinder kaum Strukturen gebe. Zumindest keine hilfreichen. Während sowohl die Forschung als auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung  Psychotherapien „mit kurativer Absicht“ als ungeeignet erachten, setzt man laut Sasse in vielen Kliniken immer noch auf dieses „biopsychosoziale Modell“. Mit den dort angebotenen, aktivierenden Therapieangeboten schädige man die Kinder aber noch mehr, weil bei ME/CFS auf jede Überlastung ein Crash folge. „Da können wir also gar nicht hin. Das ist traurig“, sagt Sasse. Die meisten niedergelassenen Ärzte zuckten nur mit den Schultern. Krankenhäuser seien aufgrund von Lautstärke und Reizüberflutung nachweislich kein geeigneter Ort für Menschen mit ME/CFS, insbesondere für schwer und schwerstbetroffene Patientinnen und Patienten. In den Selbsthilfegruppen zeige sich klar: „Viele von ihnen gehen nur noch in Kliniken, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt. Sie bleiben gezwungenermaßen zu Hause – zum einen aufgrund der Crashgefahr, zum anderen aufgrund des Mangels an Behandlungsoptionen. Und sind damit für das medizinische System praktisch unsichtbar.“

Sasses Kinder sind sieben und neun Jahre alt. Noch vor zwei Jahren seien sie „Draußenkinder“ gewesen, in gewisser Weise sind sie das auch heute noch, denn immer dann, wenn ein bisschen Kraft zurückkehrt, ziehe es sie wieder vor die Tür. „Aber sobald sie sich etwas mehr bewegen, verschlechtert sich ihr Zustand“, sagt Sasse. Zur Schule können sie nicht mehr gehen. Manchmal treibt das Spielen mit einer Puppe den Puls der Tochter auf 130, einmal crashte sie nach derlei Belastung so stark, dass sie sich nicht mehr an ihren eigenen Namen erinnern konnte. Mittlerweile sitzen beide Kinder im Rollstuhl, die Sasses mussten ihre Erwerbstätigkeit aufgeben. Sie pflegen und sorgen sich in Vollzeit.

Informationen über neue Erkenntnisse saugen die Sasses gierig auf. Jena und Erlangen: Forscher haben herausgefunden, dass die Muskeln Betroffener mit Sauerstoff unterversorgt sind. Südafrika: Mikrogerinnsel könnten den Zugang blockieren. Eine Untersuchung in der Schweiz hat ergeben, dass diese Veränderung auch bei Sasses Sohn nachweisbar ist. Edinburgh: Eine Studie zeigt, dass bestimmte Genvarianten ein Ausbrechen von ME/CFS wahrscheinlicher machen. Berlin: Die Charité entdeckt einen erhöhten Natriumgehalt in den Muskeln von ME/CFS-Betroffenen, was an einem gestörten Ionentransport liegen könnte. Die Niederlande: Nekrosen in der Muskulatur werden festgestellt, die nicht auf eine Dekonditionierung zurückzuführen sind. 

In der lichtdurchfluteten Küche in Köln ist das nicht anders. Julischka und Sebastian haben ihr Leben um diese Krankheit herumgebaut. Vor allem Lottas Mutter steckt beruflich stark zurück. In ihrem Friseursalon, den sie erst vor vier Jahren eröffnet hat, steht sie nur noch einmal wöchentlich für drei Stunden. Ende des Jahres will sie ihn schließen oder einem Nachfolger übergeben. Sebastian arbeitet bei der TH Köln so oft wie möglich aus dem Homeoffice. Auch die Partnerschaft ist in den Hintergrund gerückt. „Wir waren seit dem Ausbruch der Krankheit einmal gemeinsam ein Eis essen, während die Oma hier bei Lotta saß. Mehr haben wir nicht unternommen“, sagt Julischka. Kein gemeinsamer Urlaub, kein gemeinsamer Kinoabend. In gewisser Weise haben sich die Türen um die ganze Familie geschlossen. „Lotta fragt mich jeden Tag: Was hast du heute gemacht? Aber ich bin kein gutes Tor zur Welt. Denn auch ich erlebe nichts“, sagt die Mutter. Die rigorose Sparsamkeit bei den eigenen Bedürfnissen ist auch deshalb nötig, weil das Paar ja noch zwei weitere Töchter hat, deren Recht auf Liebe, Lachen und Aufmerksamkeit man um jeden Preis gerecht werden will. Julischka sagt: „Um das zu schaffen, reißen wir uns hier jeden Tag ein Bein aus“

Aber dann gibt es auch diese Momente, in denen die Türen einen Spalt aufgehen. Wenn Lotta sich Gemüselasagne wünscht. Wenn Lotta für einige Minuten mit normaler Stimme sprechen kann. Wenn Lotta für zehn Minuten das Smartphone zur Hand nimmt, um sich Bilder aus ihrem früheren Leben anzusehen. Lotta tanzt Ballett, Lotta lacht mit Freundinnen, Lotta spaziert in der Sonne Italiens. Dann gelingt es Lotta, sich selbst auch  in einer hellen Zukunft zu sehen, sagt ihre Mutter und ihre Stimme gewinnt an Stabilität. „Sie will später eine Stiftung gründen und anderen betroffenen Familien helfen.“ Gesund werden, heiraten, viele Kinder bekommen. Lotta liegt, aber in ihren Plänen ist sie schon wieder auf den Beinen.


Die Familie wünscht sich Spenden an die ME/CFS Research Foundation für die biomedizinische Erforschung der Krankheit.

Lichtblick für Kinder mit PostCovid, PostVac und ME/CFS – Förderverein kindgerechtes Krankhaus e.V. – betterplace.org

https://mecfs-research.org/support/

Ein weitergehendes Bild von der Krankheit kann man sich bei der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS machen. Eltern betroffener Kinder geben der Krankheit über die Internetseite Mein-Kind-kann-nicht-mehr ein Gesicht.