Der Schock sitzt noch tief

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Ein elfjähriger Junge hatte sich befreit und war durch die geborstene Heckscheibe geflüchtet.

Ein elfjähriger Junge hatte sich befreit und war durch die geborstene Heckscheibe geflüchtet.

Eine überlebende Geisel und der damalige Einsatzleiter der Polizei erinnern sich an die dramatischen Stunden von Deutz.

Heinz Buchner erbittet einen Tag Bedenkzeit. „Ich muss eine Nacht darüber schlafen, ich habe eigentlich damit abgeschlossen“, sagt der 63-jährige Wiener am Telefon zögerlich. 24 Stunden später möchte er dann doch sprechen. Zuerst erkundigt Buchner sich, wie es der damaligen Reiseleiterin heute geht, ob sie sich auch zu Wort gemeldet hat.

Hat sie aber nicht, sie will es nicht. So wie fast alle Betroffenen, die am 28. Juli 1995 an dem Geiseldrama in einem Stadtrundfahrtbus vor dem Tanzbrunnen beteiligt waren. Zu tief sitzt offenbar der Schock. Auch nach zehn Jahren. Heinz Buchner hat den Alptraum noch „kristallklar“ vor Augen, wie er sagt. „Held von Köln“ hatte ihn die Boulevardpresse getauft. Weil er den Geiselnehmer Leon Bor im entscheidenden Moment abgelenkt und so wohl das Leben eines elfjährigen Jungen gerettet hatte. Bor hatte auf den Jungen gezielt, als der durch die zerborstene Heckscheibe des Reisebusses türmen wollte. „Um Gottes Willen! Bitte nicht das Kind!“, rief Buchner und reckte nach seinen Angaben schützend den Arm in den Mittelgang. Die Kugel aus Bors Pistole traf ihn in die rechte Schulter, der Junge sprang unverletzt auf die Straße. Fälschlicherweise hieß es seinerzeit, Buchner hätte sich in die Schussbahn geworfen.

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Das Drama hatte um 10.40 Uhr begonnen, an einem Freitagmorgen. Vor dem Tanzbrunnen in Deutz hatte der Rundfahrtbus angehalten, die 26 Passagiere wollten das Dom-Panorama fotografieren. Plötzlich steht der 31-jährige Leon Bor in einer hinteren Reihe auf, geht wortlos nach vorne und schießt dem Fahrer (26) Raimund G. mit einer Smith- & -Wesson-Pistole in den Hinterkopf - der Beginn eines siebenstündigen Nervenkriegs, für die Geiseln, für ihre Angehörigen, für die Polizei.

Unentwegt brüllte der 31-Jährige in einem Kauderwelsch aus Russisch, Deutsch und Englisch die Geiseln an. Bor stellte keine klaren Forderungen, verlangte bei der Polizei mal nach einem Dolmetscher, mal nach einem Regierungsvertreter. Um 17.40 Uhr ging der Gangster durch die Reihen, fragte die Touristen nach ihrer Nationalität. Als eine 64-Jährige „Germany“ antwortete, knallte es. Die letzte Silbe hatte sie noch nicht ausgesprochen.

Auch Winrich Granitzka (62) fällt es nach zehn Jahren schwer, über seine Erinnerungen zu sprechen. Granitzka war der verantwortliche Einsatzleiter der Polizei. „Dieser Fall gehört zu jenen, die mir am meisten abverlangt haben“, sagt er. „Wir wussten ja nicht, dass die Dynamitstangen an seinem Körper nur eine Attrappe waren. Ich dachte: Was passiert, wenn du einen Fehler machst? Wenn das hier schief geht? Wenn der den Bus in die Luft jagt? Wie viele tote Geiseln und Kollegen hätte es gegeben?“ Als die Beamten in der Befehlsstelle erfuhren, dass Bor eine 64-jährige Frau erschossen hatte, kochten unter den erfahrenen Polizisten im Präsidium die Emotionen hoch. Schrecken und Wut auf den irren Täter brachen sich Bahn.

„Es war extrem schwierig, in dieser Situation vernünftig zu handeln. Aber wir mussten den Bus stürmen, den Mann notfalls töten, wir mussten ihn stoppen. Und man musste sich klar machen, dass man ihn nicht aus Wut erschießt, sondern weil wir keine andere Wahl hatten.“ Granitzka, der gläubige Katholik, schickte Stoßgebete gen Himmel. „Ich betete: »Herr, lass mich die richtige Entscheidung treffen für die Menschen, die mir anvertraut sind«.“

Unterdessen litten der angeschossene Heinz Buchner und seine Frau im Bus Höllenqualen. „Der Verrückte schrie mich an: »Geh raus! Hol Wasser! Und bring mir ein Handy mit!«“. Buchner fragte, ob seine Frau ihn begleiten dürfe. „Nein“, entgegnete Bor und drohte: „Wenn du nicht wiederkommst, erschieß ich deine Frau.“ Entkräftet und stark blutend hangelte sich Buchner aus dem Heckfenster. Ärzte retteten ihn in einer Notoperation. Buchners Frau ließ der Täter am Leben.

Mit dem Jungen, dem der Österreicher womöglich das Leben gerettet hatte, hat er nie wieder gesprochen. „Seine Mutter sagte mir, er wolle nicht mehr über das Geschehen sprechen.“ Und heute? Würde er den inzwischen 21-Jährigen treffen wollen? „Ach, das ist jetzt so lange her. Das hat sich erübrigt“, wehrt Buchner ab. Ob er im Bus mal überlegt hat, den Geiselnehmer selbst zu überwältigen? „Ja, aber wissen Sie, ich bin nicht gerade eine Kämpfernatur. Mit mir kann man höchstens Schach kämpfen, am Bretterl.“

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