Köln-Belgisches Viertel - Lütticher StraßeIm Wandel der Zeiten

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Meine Straße der Erinnerung ist die Lütticher Straße im heute "Belgisches Viertel" genannten Kölner Stadtteil, in der ich mit einer 5-jährigen Unterbrechung seit meiner Geburt im Jahr 1939 lebe. Meine Erinnerung setzt ein, als die Familie - bestehend aus Vater, Mutter, Großmutter und mir - im September 1945 aus der Evakuierung zurückkam. Ich war damals 5 Jahre alt und das erste, was ich von meiner Straße zu sehen bekam, waren Trümmer: Ausgebrannte und zerbombte Steinhaufen, die Reste ehemals wunderschöner Häuser aus der Jahrhundertwende. Einige davon hatten dem Bombardement Stand gehalten und ragten wie Rettungsinseln aus dem allgemeinen Chaos. Gottlob gehörte unser Haus zu denen, die von der Zerstörung verschont geblieben waren, wenn auch nicht ganz: Im hofwärts gelegenen Flügel fehlte durch den Einschlag einer Luftmine ein Teil des Anbaus. Der Schutt war in den Hof gefallen und bedeckte den Boden bis zur Fensterkante der Hochparterrewohnungen.

Einige Tage nach unserer Rückkehr durfte ich zum ersten Mal zum Spielen auf die Straße. Kaum ein Mensch war zu sehen. Ich zog einen kleinen, wie ein Steckkissen geformten Puppenwagen mit zwei Babypuppen, die bei jeder Bewegung mit Armen und Beinen ruderten, hinter mir her, als ich plötzlich auf der anderen Straßenseite in Gegenrichtung ein gleichaltriges Mädchen auf mich zukommen sah, das ein umgedrehtes kleines Tischchen, in dem ein Teddy saß, vor sich herschob. Sie blieb stehen und sah zu mir herüber. Ich überquerte die Straße und sprach sie an: "Mädchen, wie heißt du?" "Christel, und du?" "Rosemarie!" Das Eis war gebrochen und sie blieb lange Zeit meine beste Freundin.

Es ging aufwärts in unserer Straße. Fast täglich kamen Menschen zurück und die Häuser füllten sich wieder mit Leben. Plötzlich war da eine Schar Kinder, die die Straße bevölkerte, die miteinander spielten, sich zankten und wieder vertrugen und die ein unbeschwertes Leben hatten. Wir lieferten uns wüste Schlachten mit den "Feinden" aus der Aachener Straße, die wir quer über die Trümmer laufend überfielen und die dann Tage später mit gleicher Münze heimzahlten. Eigentlich war es verboten, in den Trümmern zu spielen, gab es doch viele Stellen, die nur scheinbar stabil waren, die aber bei der kleinsten Belastung nachgaben und den Absturz in ein tiefes Loch zur Folge hatten. Keiner von uns hielt sich an das Verbot. Es war eine tolle Mutprobe, über die Schmalseite eines Eisenträgers zu laufen, wenn links und rechts der Abgrund gähnte. Trotzdem gab es nie ein Unglück. Außerdem suchten und fanden wir dort Stücke von Putz, der ehemals an den Wänden der zerstörten Räume geklebt hatte, die wir als Kreide für das Aufmalen von Hüppekästchen auf dem Bürgersteig oder zum Verschönern des Straßenpflasters am Tag vor der Pfarrprozession benutzten. In mühsamer Kleinarbeit malten wir auf jeden Stein ein Kreidekreuz, um den Weg des lieben Herrn Jesus ansprechend zu gestalten. Leider war alle Mühe umsonst, denn es regnete in der Nacht und die ganze Herrlichkeit war am nächsten Tag verschwunden. Ein anderes beliebtes Spiel war Völkerball, das wir von einer Straßenecke zur anderen fast ohne Unterbrechung spielen konnten. Nur ab und zu kam ein Pferdefuhrwerk vorbei, an das wir uns anhängten und ein Stück mitziehen ließen. Autos gab es zu der Zeit nur vereinzelt.

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Dann begann die Zeit des Wiederaufbaus und die Straße änderte ihr Gesicht. Überall standen Gerüste, Baulücken wurden geschlossen und Lastwagen luden große Mengen Sand vor den Baustellen ab. Wir Kinder stürzten uns freudig auf die neue Spielmöglichkeit, zertraten den Sand bis zur Unkenntlichkeit, so dass er den Bürgersteig blockierte und bis auf die Fahrbahn floss. Seltsamerweise ließen uns die Erwachsenen gewähren. Nie hat uns jemand an unserem Tun gehindert oder fortgejagt.

Dann geschah ein kleines Wunder: An der Ecke zur Brüsseler Straße sprudelte plötzlich eine Quelle. Es handelte sich um einen Hydranten, den jemand angestellt und nicht wieder verschlossen hatte. Jedenfalls floss das Wasser eine ganze Weile Tag und Nacht und bot phantastische Spielmöglichkeiten. Auch ein Name für das Wunder wurde gefunden. Ich weiß nicht mehr, wer die Idee hatte, jedenfalls war plötzlich der Name da: Mömmesquell! Sie machte uns eine Menge Freude, besonders da es Sommer war, bis irgendjemand ungelöschten Kalk, der wohl von einer Baustelle stammte, in die Mömmesquell streute, weil das so schön waberte. Vielleicht hatte man auch im selben Moment den Schlüssel zum Abstellen des Hydranten gefunden, jedenfalls versiegte sie so plötzlich, wie sie entstanden war. Den Anschluss gibt es noch heute.

Ende der 50er, Anfang der 60er-Jahre war ein Spielen auf der Fahrbahn nicht mehr möglich. Es wurde von uns auch nicht vermisst, waren wir doch inzwischen zu jungen Erwachsenen herangewachsen. Außerdem begann die Stadtflucht: Viele Familien zogen hinaus ins Grüne, die Trabantenstädte boomten. In die leerstehenden Häuser und Wohnungen zogen Gastarbeiter ein. Und wieder war die Straße von spielenden Kindern bevölkert, ein buntes Gemisch aus verschiedenen Nationen und Sprachen, wobei man sich schließlich als gemeinsamen Nenner auf Kölsch einigte. Jedoch solch ideale Bedingungen und soviel Toleranz wie wir fand keine andere Generation je wieder vor.

Dann kamen die Immobilienhaie; zum Teil skrupellose Geschäftemacher, die plötzlich die Vorzüge der Innenstadt entdeckten. Es wurde luxusmodernisiert auf Teufel komm raus, Wohnungen zu horrenden Preisen als Eigentumswohnungen an solvente Singles und kinderlose Paare verkauft. Dabei wurde mit den Altmietern nicht zimperlich umgegangen. Wenn sie ihre Bleibe nicht freiwillig aufgaben, erschien auch schon mal über Nacht ein Räumkommando, das Leitungen kappte und Abflussrohre und sanitäre Anlagen mit dem Vorschlaghammer zerschlug. So manches Mal konnten wir beobachten, wie aus einem Fenster ganze Waschbecken oder Kloschüsseln geworfen wurden und unten auf dem Boden zerschellten. Meistens gaben die Mieter dann entnervt auf. Heute wohnen nur noch wenige ausländische Familien in der Straße. Selten sieht man ein spielendes Kind.

Nach den Ausländern kamen die Roten! Quasi über Nacht zogen die Mitglieder der Baghwansekte - erkennbar an ihrer roten Kleidung - in mehrere renovierte Häuser und schlug dort ihr Hauptquartier auf. Von nun an herrschte eine Friede-Freude-Eierkuchenstimmung, die einem die Sinne vernebeln konnte. Überall auf der Straße standen engumschlungene Pärchen - egal ob gleichgeschlechtlich oder gemischt - die sich wortlos in den Armen hielten und minutenlang bewegungslos verharrten, froh, einander zu haben. Man musste schon befürchten, dass sie mit der Zeit Wurzlen schlagen würden. Wenn es je eine Gruppe geschafft hat, der Straße und später dem ganzen Viertel seinen Stempel aufzudrücken, dann die Baghwanjünger. Sie gründeten ihre eigene, völlig autonome Kommune, in der es - angefangen mit eigenem Kindergarten über Kiosk, Restaurant, Druckerei, Fensterputzer, Maler, Gärtner, mehrere Discos bis hin zu Ärzten und Rechtsanwälten alles gab, was zu einem Gemeinwesen gehört. Die erwirtschafteten Gewinne flossen oft in die Neuanschaffung eines weiteren Rolls Royce, mit dem Baghwan in Poona beglückt wurde. Wenn dann so ein Beglücker heimkehrte - meist mit einem neuen, höheren Rang im Gepäck - wurde ihm ein fürstlicher Empfang bereitet: Ein roter Teppich wurde ausgelegt, um ihm den Weg vom Auto zum Hauseingang so angenehm wie möglich zu machen und es wurde getrommelt, gezimbelt und gesungen, was das Zeug hielt. Es war eine denkwürdige, wenn auch für die Alteingesessenen nicht immer leichte Zeit, die schließlich mit der Auflösung der Gemeinschaft endete. Die rote Kleidung wurde abgelegt; man war wieder anonym. Viele Jünger verliessen den Ashram, andere sind bis auf den heutigen Tag geblieben, leben unauffällig unter uns und arbeiten vielleicht endlich mal auf eigene Rechnung.

Heute ist die Lütticher Straße immer noch eine schöne Straße mit viel Grün in den Vorgärten, die der seinerzeitigen Mode der Umwandlung in Parkplätze Stand gehalten haben. Ich lebe immer noch gerne hier, obwohl viele alte Nachbarn gehen - sei es durch Tod oder Wechsel ins Altenheim. Für mich kommt ein Umzug nicht in Frage und wenn doch, dann eines hoffentlich fernen Tages in Richtung Melaten. Das Wann überlasse ich dem lieben Herrn Jesus und den Verhinderungsbemühungen meines ebenso lieben Arztes.

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