Künstler Bernhard KirchgaesserDas Erbe eines Verbitterten

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Abegfahren: Bernhard Kirchgaesser war bekannt für seine Kunstaktionen. Hier ist er mit Astronautenhelm bei einer "Lesung" zu sehen.

Abegfahren: Bernhard Kirchgaesser war bekannt für seine Kunstaktionen. Hier ist er mit Astronautenhelm bei einer "Lesung" zu sehen.

Schlebusch – Nein, ein angenehmer Zeitgenosse sei er wahrlich nicht gewesen. „Eigentlich“, sagt Hans-Jürgen Müller, „habe ich Bernhard Kirchgaesser nur als verbitterten Menschen kennen gelernt.“ Zuletzt habe man gar überhaupt nicht mehr mit ihm reden können. Aber als der Leverkusener Künstler Kirchgaesser am 14. September 2000 verstarb, da müssen sich Hans-Jürgen Müller und seine Frau Claudia Müller-Konrad doch der schönen Momente mit dem Querkopf erinnert haben. Da müssen sie ihm seine Sturheit und schlimmen Launen verziehen haben: Sie kauften Kirchgaessers Anwesen in Edelrath. Und sie begannen mit der Verwaltung seines Nachlasses. Es ist ein Dienst, der ob seines posthumen Charakters nicht hoch genug einzuschätzen ist. Und einer, der besonders die 64-Jährige schon viel Kraft kostete.

Das reinste Chaos

Denn als sie das Wohnhaus und das Atelier des Verstorbenen am Edelrather Weg - gerade einmal 20 Meter vom eigenen Heim entfernt - erstmals betrat, da stockte ihr der Atem: In dem engen Fachwerkhaus mit den niedrigen Decken stapelten sich Müll, Unrat, Schutt. „Man konnte keinen Fuß vor den anderen setzen.“ Direkt zu Beginn ihrer Arbeit also stand Claudia Müller-Konrad vor der Frage: Will ich das wirklich? Fast vier Jahre lang dachte sie über eine Antwort nach. „Dann habe ich irgendwann spontan meinen Urlaub geopfert und gesagt: Jetzt oder nie.“ Die Urlaubswochen, die keine waren, wurden schlimme Wochen: „Ich stand morgens auf, ging hinüber, wühlte mich durch den Schutt, ging nach Hause, duschte und legte mich schlafen. Jeden Tag. Ich war fertig. Ich war vollkommen deprimiert.“

Nach 14 Tagen kam ihr heute 67-jähriger Mann mit, um zu helfen. Nach einigen Monaten stapelte sich der ausgeräumte Unrat meterhoch im Innenhof des ehemaligen Kirchgaesser-Anwesens. Nach vier Jahren - also heute - ist das Wohnhaus wieder gefahrlos zu betreten. Es wird bald ebenso wie das benachbarte Atelier renoviert. Die Scheune, die den beiden Gebäuden gegenübersteht, ist bereits so gut wie neu gestaltet. Zwei Ateliers - eines für die ebenfalls kreativ tätige Claudia Müller-Konrad sowie ein zu vermietendes - sind im Innern eingerichtet. Richtig schön wird das Anwesen einmal aussehen - das kann man erahnen. Aber was Claudia Müller-Konrad und ihren Mann am meisten freut, das sind all jene Kunstschätze und Zeitdokumente, die sie beim jahrelangen Wühlen im Chaos des Künstlers entdecken und bergen konnten. Sie fanden Taschenbücher. Sie fanden alte Fotos - darunter viele aus jener Zeit zwischen 1960 und 1975: In jenen Jahren hatte Kirchgaesser in den Remisen von Schloss Morsbroich gewohnt und gearbeitet. Sie fanden Fotos von skurrilen Kunst-Lese-Theater-Aktionen im Keller des Schlosses. Und sie stießen auf Fotos, die Kirchgaesser mit seinen Kindern und seiner ersten Frau Edda zeigen. Edda bot damals Töpferkurse an, an denen auch Claudia Müller-Konrad teilnahm. So entwickelte sich eine Freundschaft zwischen dem Leverkusener Künstlerpaar und den 1971 aus München hergezogenen Müller-Konrads, die 1986 wiederum ihr heutiges Haus neben dem Kirchgaesser-Anwesen kauften. „Bernhard hatte uns den entscheidenden Tipp gegeben, als das Grundstück zum Verkauf stand.“ Weitere Fundstücke waren die ungezählten Zeichnungen und Bilder - sowohl aus Kirchgaessers früher, abstrakter Phase, als auch aus der Zeit, in der er gegenständlich arbeitete und Öl- wie Tempera-Bilder malte. Sie alle hängen, liegen, lagern im Haus der Müller-Konrads. Es sind mittlerweile sogar so viele, dass kürzlich ein Teil zugunsten des Morsbroicher Museumsvereins versteigert wurde. Was die fleißigen Nachlass-Verwalter indes behalten haben, das sind jene gleichsam verworrenen wie beeindruckenden Partituren, die Kirchgaesser Ende der 50er Jahre für Karlheinz Stockhausen, diesen Komponisten von Weltrang, zeichnete. Weiter natürlich die Entwürfe seines 1962 gedrehten Experimentalfilms „Pentagramm“, zu dem Stockhausen die Filmmusik besteuerte.

Und nicht zuletzt all die Tagebücher, in denen Kirchgaesser seine Gedanken niederschrieb und in denen er Zeitungsausschnitte über sich sowie Leserbriefe von sich sammelte. Sie belegen, was für ein Querkopf der Künstler war: Er übte unverhohlen Kritik an der Ausstellungspolitik des damaligen Morsbroicher Museumsleiters Udo Kultermann und wurde 1965 bei einer Ausstellung im Erholungshaus gar ausjuriert. Spontan veranstaltete Kirchgaesser daraufhin eine Gegenausstellung im Keller des Schlosses und stellte seine Arbeiten in den Folgejahren - beinahe genüsslich Rache nehmend - weltweit in Jerusalem, Venedig, Rom, Wien, Brügge und New York aus.

Nach 1975 erwählte der Künstler das niederländische Middelburg als zweite Heimat. 1988 starb Ehefrau Edda. Kirchgaesser heiratete erneut. „Und von da an“, erinnert sich Claudia Müller-Konrad, „verschlechterte sich die Beziehung.“ Der Kontakt brach nahezu ab. Der ehemalige Freund und gute Nachbar sei zum grantelnden Unsympathen geworden, der es einem nicht leicht machte, ihn zu mögen. Bis zu seinem Tode. Und bis zu jenem Tag, an dem Claudia Müller-Konrad ihre Entscheidung zu fällen hatte.

Warum also taten sie und ihr Mann all das für das Andenken an den Querkopf Kirchgaesser? Diese Frage schwebt über allem, was das Ehepaar in den vergangenen Jahren tat. Sie schwebt über all dem, für das die beiden so viele Stunden Lebenszeit geopfert haben. Claudia Müller-Konrad überlegt einige Sekunden. Dann weiß sie es. Sie sagt: „Wir haben ihn einfach verehrt“. Einen besseren Grund kann es nicht geben.

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