Meine StrasseEin Dorf mit Weltniveau

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So ein "Hochhaus" hat nicht jedes Dorf... (Bild: Max Grönert)

So ein "Hochhaus" hat nicht jedes Dorf... (Bild: Max Grönert)

Porz-Ensen – Wer in der Großstadt mal so richtig allein sein will, der sollte es in Köln-Porz-Ensen versuchen. Auf jenen rund 900 Metern unseres Planeten, die den ungewöhnlichen Namen Gilgaustraße abbekommen haben, kann es ganz schön einsam sein. Immer wenn die Nacht anbricht, aber auch an Wochenenden und Feiertagen, gehört die Straße mir, wenn ich es will. Sobald die Geschäfte geschlossen haben, verwandelt sich die Hauptstraße von Ensen-Westhoven in eine Art Geisterpfad. Allenfalls huscht mal jemand in die Pizzeria oder in die paar Kneipen. Hallo, Nachbarn! Wo bleibt ihr nur, wenn es nicht gerade was in der Gilgaustraße zu besorgen gibt? Liegt denn ein Bann über ihr? Ihr sagt jetzt: „Quatsch mit dem Bann, hier ist einfach nur nichts los“? Dann passt mal auf, hier ist einer, der bei seiner Liebe zur Gilgaustraße aufs Ganze geht, für den sie mehr ist als nur so eine Einkaufsstraße. Und er verrät euch auch, was er mit ihr schon alles erlebt hat. Selbst auf die Gefahr hin, dass ihr sie ebenso schätzen lernt, in Massen auf ihr lustwandelt - und mir bei meinen Spaziergängen auf den Füßen herumtretet.

Was die „Gilgau“ so reizvoll macht - sie ist ein Dorf inmitten der Millionen-Metropole Köln. Jedenfalls denken viele Alteingesessene unter uns Menschen von der Gilgaustraße nicht sehr großstädtisch. Das mit der Eingemeindung von Porz nach Köln, damals 1975, ist mittlerweile akzeptiert. Aber wir sagen „Ich fahr mal nach Köln“, wenn wir in die Innenstadt wollen. Dabei sind wir doch Köln, ganz nah am Zentrum, in zehn Minuten mit dem Auto da, in 15 mit der Linie 7. Und das dreieckige Gebäude mit grade mal fünf Stockwerken im Zentrum, da wo die Kölner Straße die Gilgaustraße teilt, nennen die Eingeborenen - „Gilgau-Hochhaus“. Ein gewagter Superlativ, der aber auf Sinn für Ironie schließen lässt, Landbevölkerung gilt gemeinhin als gewitzt.

Zwischen Rheinidylle und rumsenden Waggons

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Allerdings fehlt uns Dörflern die Natur drum herum, wenn auch das Wort Gilgau möglicherweise an eine Aue und einen Wasserlauf (Jill, Keltisch-Germanisch) erinnert, die früher dort zu finden waren. Fast all die freien Flecken wurden nach und nach zugebaut. Das ertragen diejenigen von uns, die hier schon bessere Zeiten erlebt haben, wohl nur aus einem Grund. Am westlichen Ende der Straße ist uns nach wie vor das achte Weltwunder vergönnt: Der Rhein. Über den schönsten Fluss der Welt, der so mitreißend ist und gleichzeitig so viel Gelassenheit verströmt,braucht an dieser Stelle wohl nichts weiter gesagt werden.

Am anderen Ende der Gilgaustraße findet sich ebenfalls eine Verbindung zur weiten Welt, der riesige Rangierbahnhof Gremberg. Das Quietschen und Rumsen der Waggons ist bei abendlichen Ausflügen auf der Gilgaustraße zu hören - wenn der Wind günstig steht. Beruhigend wirkt das. Und für einen, der sehr an Musik und Klängen überhaupt interessiert ist, hat die Kakophonie aus Geräuschen hohen Unterhaltungswert. Zugegeben, für manchen, der nah am Bahnhof wohnt, könnte es nichts als lauter Lärm und schlafraubend sein.

Zwischen diesen beiden Attraktionen wandere ich gern bei Tag und Nacht über meine Gilgaustraße. So richtig schmuck ist sie nicht. Es sind nur wenige Häuser aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg übrig geblieben. Doch was seitdem gebaut wurde, ist ein Triumph der Unordnung, ein Sammelsurium aus zweckmäßigen bis leicht gewagteren Ein- und Mehrfamilienhäusern quer durch alle Bau-Epochen der Nachkriegszeit. Diese Straße wirkt wie ein architektonisches Phantasialand, heiter bis gruselig, immer unterhaltend.

Können Häuser eigentlich erotisch sein? An der Kreuzung von Gilgau- und Kölner Straße steht jedenfalls seit etwa einem Jahr eines, das bezaubert. Seine Fassade in Sandfarbe und Madeira-Rot ist schlicht, kommt ohne Schnörkel, ohne abenteuerliche Formen aus, mutet modern und zeitlos zugleich an, strahlt warme mediterrane Atmosphäre aus, aber auch die coole Sachlichkeit des Bauhaus-Stils. Was macht nur den Unterschied aus zu meinem Haus und allen anderen? Tausendmal schon hab ich verglichen - vergeblich. Es muss an den Proportionen liegen, an der Kunst der Baumeister. Noch besser gefällt mir der Gedanke, dass meine Straße ein kleines Geheimnis hat.

Eine Wohngruppe für 24 chronisch psychisch kranke Menschen lebt in dem Haus, betreut vom Alexianer Wohnverbund Köln. Die Alexianer sorgen sich im nahen Kloster Ensen schon seit gut 100 Jahren um seelisch Erkrankte. Und die Bewohner, die möglichst selbstständig leben sollen, gehören einfach zur Gilgaustraße. Tagsüber suchen einige hier Gespräche, ein paar nette Worte, gerne auch bei einer Zigarette. So kam es, dass mein Vater zwei von ihnen sponserte, ihnen immer wieder ein paar Mark in die Hand drückte, von denen sie sich gleich Bier kauften. „Weil wir unser Leben nur so aushalten können“, hatte einer mal gesagt. Als mein Vater 1983 starb, hab ich die zwei „adoptiert“ und mit Trinkgeld versorgt. Seit einiger Zeit sind sie nicht mehr da. Ich vermisse sie. Wenn sie mit glücklichem Blick und den paar Kröten davontrotteten, tat das auch mir gut. Aber es gibt genügend andere, die versorgt sein wollen.

Der Marktplatz ist meist Parkplatz

Ja, es ist schon was los auf der Gilgaustraße, so lange sie geöffnet haben, die Geschäfte, von Supermärkten über Bäcker und Friseure, Apotheke, Optiker bis hin zum Restaurant am Rhein, wo die köstlichste Currywurst diesseits und jenseits des Stroms lockt. Zu den Kunden gesellen sich gerne städtische Mitarbeiter, die uns bringen, was eigentlich keiner will: „Knöllchen“. Zuweilen, wenn Markt ist, samstags, sind reguläre Parkplätze knapp.

Einen Marktplatz haben wir also auch, genauer gesagt einen Parkplatz, auf dem der Wochenmarkt stattfindet, das Maibaum-Aufstellen - und sonst nichts. Schade, der Flecken ist eigentlich ganz schön gelegen, könnte ein Treffpunkt sein, die ganze Straße, den gesamten Ort beleben - wenn es denn ein Café gäbe, irgendetwas, das zu Geselligkeit einlädt. Ich mochte den Marktplatz schon als Kind sehr. Da rundherum Häuser stehen, ist er in puncto Schall und Hall wirklich überwältigend. Um Silvester herum hab' ich hier mit Freunden massenweise Böller gezündet. Was hat das gekracht! Und jetzt ist endlich eine gute Gelegenheit, mich bei jenen Anwohnern, die damals leiden mussten, zu entschuldigen. Und wer das hier liest, soll jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken kommen. . .

Das wahre Zentrum der Straße liegt weiter östlich, nahe der KVB-Haltestelle für die Linie 7. Bis vor wenigen Wochen hatte Feinkost Hackenbroch jeweils bis nachmittags ein kleines Stehcafé eingerichtet. Dann gingen die zwei Inhaber in den Ruhestand. Die Szene wanderte ein paar Meter weiter. Dort bietet jetzt ein Restaurant von 6 Uhr bis 15 Uhr Frühstück, Mittagessen und Lebensberatung. Wer Orientierung sucht in unserer komplizierten Welt, wurde schon beim „Hacki“ stets fündig. Es scheint, dass das beim Nachfolger nicht anders sein wird. Vom Arbeiter bis zum Akademiker versammelt sich hier schon wieder alles, was genau Bescheid zu wissen glaubt. Ich erfahre zum Beispiel, dass „der FC nur diese Saison überstehen muss, dann geht's mit Poldi aufwärts“, aber auch, dass „der FC den Podolski wieder verkaufen soll, weil der eine Luftnummer ist“. Das Tolle ist, irgendeiner hat immer recht.

Die Nachbarn sind stets zur Stelle

Auf die Menschen in der Gilgaustraße ist eben Verlass. Seit 1975 wohne ich an der Kreuzung mit der Elisenstraße, und meine Nachbarn möchte ich nicht tauschen. So etwas nennt man wohl Dorfgemeinschaft. Die hat nicht nur meiner jüngst verstorbenen Mutter den Lebensabend erleichtert, sondern erträgt auch deren Sohn geduldig. Droht der Garten mal wieder zu verwildern, gibt's von den einen liebevoll mahnende Blicke und von den anderen gleich die Elektrosäge dazu.

Missen mag ich auch nicht jene Nachbarn, die seit ein bis zwei Jahrzehnten dazugehören. Aussiedler und andere Menschen von weither, die das Schicksal nach Ensen verschlagen hat, leben in nahen Straßen zum Rangierbahnhof hin. Ihr Hauptverkehrsweg ist aber die Gilgaustraße. Man war zunächst skeptisch, einige fürchteten gar um Sauberkeit und Sicherheit. Jedoch - da ist zum Beispiel das stets besorgte Paar aus Afrika, das etwa darauf hinweist, wenn Öl aus meinem Auto läuft. Und wer kann nicht einen Engel wie den jungen Russland-Deutschen gebrauchen, der mir einen 50-Euro-Schein nachtrug, den ich verloren hatte. Wir sind eben ein Dorf mit Weltniveau.

Nur passiert halt nicht viel. Vorigen Sommer war aber doch mal richtig was los. Die Feuerwehr musste kommen! Weil so ein Depp im Garten das Unkraut abflämmen wollte und dabei die Büsche in Brand gesteckt hatte. Es hätte schlimm enden können, aber auch hier war schnell ein Nachbar da, der half, ein Übergreifen der Flammen zu verhindern, noch bevor die Wehrmänner im null Komma nix anrückten. Von der netten Frau Wilmsen bekam der Übeltäter tags darauf die Ermahnung, die er verdient hatte: „Das nächste Mal denken Sie aber erst mal nach, bevor Sie mit Feuer spielen, wenn es so trocken ist, lieber Peter Limbach.“ Auf der Gilgaustraße bin ich zwar oft einsam, aber niemals verlassen.

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