„Spaltung macht Sorge“Krisenstabsleiter über aktuelle Corona-Entwicklungen im Kreis

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Dr. Erik Werdel ist Kreisdirektor und als Leiter des Krisenstabs.

Dr. Erik Werdel ist Kreisdirektor und als Leiter des Krisenstabs.

  • Dr. Erik Werdel ist Kreisdirektor und als Leiter des Krisenstabs seit Beginn der Pandemie in Rhein-Berg oft fast rund um die Uhr im Einsatz.
  • Über die aktuelle Lage, Hoffnungen und die Herausforderungen der kommenden Wochen hat Guido Wagner mit dem 51-jährigen Juristen gesprochen.

Hätten Sie die zweite Welle, wie wir sie zurzeit erleben, in der Heftigkeit erwartet?

Werdel: Dass es eine zweite Welle geben würde, war klar. Dass wir damit in der Schnupfenzeit rechnen müssen, haben ja auch alle Virologen gesagt. Die Rasanz der Steigerung der Infektionszahlen aber habe ich so nicht erwartet. Auch nicht, dass die Inzidenzen so schnell über 35, über 50 und dann über 100 steigen würden.

Knapp 200 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen hatten wir in dieser Woche. Im Frühjahr hieß es, schon ab dem damaligen Höchststand von 37,4 sei die Pandemie in der Region kaum noch zu händeln. Was ist nun anders?

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Als wir den Wert im Frühjahr erreicht haben, hatten wir bereits einen Lockdown und zudem viele Covid-19-Erkrankungen in Pflegeheimen. Jetzt hatten wir bei den rasanten Steigerungen der Infektionszahlen lange eine breite Verteilung in der Gesamtbevölkerung.

Aktuelle Lage

16 Neuinfektionen binnen 24 Stunden meldete der Krisenstab am Mittwoch, so wenig wie seit knapp zwei Wochen nicht mehr. Entsprechend sank die Neuinfektionsrate (Sieben-Tage-Inzidenz) um gut acht Zähler auf 179,9 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen.

Kein Grund zur Entspannung: Denn die Zahl der Covid-19-Patienten in Rhein-Bergs Kliniken steigt. Am Mittwoch waren es 32, davon fünf auf Intensivstationen. Als neu betroffene Gemeinschaftseinrichtung kam das Berufskolleg Kaufmännische Schulen in Gladbach und die Katholische Grundschule in Rösrath hinzu. Aufgrund teils zeitverzögert eingehender Meldungen und Veröffentlichungen von Allgemeinverfügungen, kann sich die Lage ändern oder nach Recherche von Kontaktpersonen weitergehende Maßnahmen erfordern. So wie im Fall der Friedrich-Fröbel-Schule in Moitzfeld. Dort war nach einem Corona-Fall zunächst die Oberstufe A unter Quarantäne gestellt worden, dann folgten sämtliche Fahrgäste und das Buspersonal der Linie M 06 im Schülerspezialverkehr zur Schule. (wg)

In dieser Woche sind aber dann auch eine ganze Reihe von Senioreneinrichtungen hinzugekommen . . .

Das stimmt, aber gerade in diesen Einrichtungen hat man sehr gut auf die Herausforderungen reagiert, aus den Erfahrungen im Frühjahr eine Menge gelernt, so dass nun das Infektionsgeschehen in der Regel sehr begrenzt ist und zum Beispiel nicht ganze Stationen oder gar Einrichtungen unter Quarantäne gestellt werden müssen. Deswegen würde ich auch nicht sagen, ab einem bestimmten Inzidenz-Wert ist eine Lage nicht mehr zu stemmen. Es kommt immer auf die Lage an: Wenn es eine ist mit vielen Infektionsausbrüchen, in der viele Kontaktnachverfolgungen nicht möglich sind, weil die Leute keine Auskunft geben können oder wollen, dann wird das Bild diffus – und die Lage schwierig.

Sind Sie erleichtert, dass mit dem bundesweiten Teil-Lockdown die Kontakte flächendeckend reduziert wurden?

Dass etwas passieren musste, war konsequent. Auf die Frage, ob ich froh bin, dass es eine einheitliche Regelung gibt, sage ich: Ja, da bin ich froh. Heilfroh, dass sich die Ministerpräsidenten der Kanzlerin angeschlossen haben und es eine einheitliche Regelung gibt.

Das hört sich nach einem „aber“ an.

Das betrifft aber nicht meine Haltung als Krisenstabsleiter. Persönlich sind mir eine Reihe von Maßnahmen zu undifferenziert. Da trifft es viele – das ist meine persönliche Meinung -, die in der Vergangenheit gezeigt haben, dass sie sehr kluge Konzepte entwickelt haben, unter anderem in der Hotellerie und Gastronomie, die viel investiert haben, und die jetzt trotz aller Investitionen vor einem drohenden Existenzverlust stehen.

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Das heißt, Sie können den Unmut gerade im Gastgewerbe nachvollziehen?

Wie gesagt – persönlich – auf jeden Fall. Da kann ich nachvollziehen, dass Menschen auch nicht die Akzeptanz haben, die aktuellen Maßnahmen nachzuvollziehen. Diese Sorgen muss man sehr ernst nehmen.

Was muss denn Ihrer Meinung nach für die Gastronomie jetzt geschehen?

Erstmal ist es wichtig, dass die zugesagten Hilfen auch schnell kommen – und bei den Betroffenen ankommen. Und wir alle können etwas tun, indem wir die Angebote nutzen, die viele engagierte Gastronomen nun zum Beispiel mit Essen zum Mitnehmen machen.

Wie nehmen Sie die Akzeptanz in der Bevölkerung für den Teil-Lockdown wahr?

Ich glaube schon, dass die Akzeptanz grundsätzlich da ist. Viele Menschen ärgern sich auch, dass sich einige nicht an die Empfehlungen oder auch Ge- und Verbote gehalten haben. Letztendlich ist es auch das Fehlverhalten einiger, das die Fallzahlen in der Rasanz nach oben getrieben hat. Dafür müssen wir jetzt alle in die Gesamtverantwortung.

Das Kreisgesundheitsamt arbeitet fast durchgängig an der Belastungsgrenze, wie weit darf die Neuinfektionsrate noch steigen, um die Lage noch händeln zu können?

Wir steuern ja ständig nach, stellen neue Mitarbeiter ein, bekommen Unterstützung von der Bundeswehr, ertüchtigen Sitzungssäle für die Arbeit des Lagezentrums. Irgendwann ist es natürlich immer schwerer, geeignetes Personal, vor allem medizinisches zu bekommen.

Ab welchem Sieben-Tage Wert geht es nicht mehr?

Ich glaube, dass die Werte gar nicht immer so entscheidend sind, Lagen sind immer dynamisch in der Krise. Ob der R-Wert, die Verdopplungsrate oder die Inzidenz – das sind immer nur Vergleichswerte. Und ich glaube auch nicht, dass die jetzige Sieben-Tage-Inzidenz der letzte Wert sein wird, auf den alle schauen. Wenn man irgendwann Werte von 513 oder 617 hat, spielt das aus meiner Sicht nicht mehr die herausragende Rolle.

Woran sollte man sich Ihrer Einschätzung nach dann besser orientieren?

Schon zu Beginn der Krise habe ich gesagt, dass es wichtig ist, die vulnerablen Gruppen stärker in den Blick zu nehmen und sie stärker zu schützen.

Zum Beispiel die Senioreneinrichtungen?

Ja, genau. Ich finde zwar, dass man es richtig gemacht hat und in Deutschland nicht auf die Durchseuchung und die Erreichung einer Herdenimmunität, sondern auf die Nachverfolgung der Infektionsketten gesetzt hat. Wenn man aber dann irgendwann Werte wie in Belgien von ein paar Tausend Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen hat, dann – glaube ich – macht der Wert nichts mehr. Dann schüren sie nur noch Ängste. Dann muss man umschwenken und vor allem die Gruppen schützen, die zu schützen sind.

Warum aber macht man das nicht zum Beispiel mit regelmäßigen Tests in Senioreneinrichtungen?

Flächendeckende Tests aller Mitarbeiter und Bewohner von Pflegeheimen in kurzen Intervallen sind schon von den PCR-Testkapazitäten her kaum möglich, ohne dass dann wichtige Testkapazitäten für Patienten mit Symptomen fehlen würden. Aber es wurden ja schon besondere Schutzmaßnahmen getroffen, zum Beispiel Quarantäneräume in Pflegeheimen eingerichtet, in denen dann neu aufgenommene Bewohner erst einmal in Quarantäne kommen. Und wie am Mittwoch der Minister angekündigt hat, sollen ja jetzt auch Schnelltests für die Mitarbeitenden zum Einsatz kommen.

Häufig liegen Virologen mit ihren Einschätzungen auseinander.

Ich kann gut nachvollziehen, dass es furchtbar schwierig ist in der Bevölkerung zu sagen: Wem glaubt man denn nun jetzt? Ich find das extrem anstrengend – auch für Krisenstäbe.

Woran orientieren Sie sich?

Wir informieren uns von allen Seiten, stehen in engem Austausch mit den Gesundheitsministerien, ich bleibe aber auch immer dabei, dass ich meinem Gefühl folge: Natürlich Vorsicht walten zu lassen, aber nicht in allem eine Gängelung zu sehen. Auch wir lernen jeden Tag dazu, wie ja alle in dieser Krise.

Natürlich auch die nicht professionell damit befassten Menschen . . .

Ja, genau. Deshalb habe ich auch die meisten Schwierigkeiten damit, wenn Leute sagen: Dies oder jenes ist aber nach der Corona-Schutzverordnung erlaubt. Dann sage ich: Ja, aber nicht alles, was man darf, ist auch sinnvoll. Und da ist jeder in der Verantwortung. Das fängt ja schon beim Besuch der Eltern an. Ich habe jetzt zum Beispiel meine Mutter seit neun Monaten nicht besucht – das tut mir in der Seele weh. Und ich hätte es gedurft, wenn ich ihr aber mit ihrer Vorerkrankung Corona gebracht hätte, dann wäre ich doch meines Lebens nicht mehr froh geworden.

Setzen sie dann auch auf Eigenverantwortung in den eigenen vier Wänden? Es gab ja auch Forderungen, dass Ordnungsämter oder Polizei bei den Menschen zu Hause kontrollieren sollten, dass die Corona-Schutzverordnung dort eingehalten wird . . .

Nein. Ich bin nicht dafür, dass der Staat in alles reinregiert. Es geht jetzt nur mit noch mehr Eigenverantwortung. Das fängt bei der eigenen Kontaktreduzierung an und reicht sicher bis hin zur Solidarität mit denen, die von den Einschränkungen jetzt wieder besonders getroffen sind.

Meinen Sie, dass sich die Solidarität aus dem Frühjahr fortsetzen lässt oder beobachten wir nicht derzeit eine Spaltung der Gesellschaft?

Das sehe ich auch mit großer Sorge. Mit manchen kann man kaum noch reden, weil sie einfach dichtmachen. Dabei ist es enorm wichtig, in einer sich so rasch verändernden Lage im Austausch zu bleiben. Ich hoffe sehr darauf, dass die Solidarität, die wir im Frühjahr geschafft haben, jetzt auch fortgesetzt wird. Das schaffen wir nur alle zusammen.

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