Experte im InterviewWarum Unwetter in den Alpen nicht mit der Flut 2021 vergleichbar sind

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Ein orangeroter Bagger auf einem Abhang voller Geröll. Ein Bach fließt vorbei.

Ein Bagger arbeitet nach einem Erdrutsch im Geröll und Schlamm, der Straßen und ein Bachbett im Val Pontirone in Tessin (Schweiz) blockiert.

Bilder von Hochwasser und Starkregen erinnern an die Flutkatastrophe vor zwei Jahren. Professor Dr. Jürgen Herget, der unter anderem die Flut im Ahrtal erforscht hat, erklärt, welche Faktoren bei Hochwasser eine Rolle spielen.

Die Unwetter in den Alpen haben Ende August in Teilen der Schweiz und Italien starke Überschwemmungen verursacht. In den Schweizer Kantonen Tessin und Graubünden fielen fast 300 Liter Regen pro Quadratmeter in 24 Stunden. Der Rheinpegel im Kanton Graubünden stieg in wenigen Stunden um mehr als vier Meter an.

Auch die norditalienische Region Lombardei war von starken Regenfällen und Hagel betroffen. Im Touristenort Bad Gastein in Österreich stürzten nach Starkregen Wassermassen mit Schlamm ins Tal. Im Süden Bayerns wurden Menschen nach flutartigen Regenfällen und starken Windböen verletzt.

Professor Herget im Interview: Die wichtigsten Faktoren des Hochwassers

Die Bilder, die wir aus diesen Regionen erhalten, erinnern an die Flutkatastrophe im Ahrtal, Kreis Euskirchen und Erftstadt-Blessem im Jahr 2021. Das Hochwasser verursachte Zerstörung in einem für die Regionen bis dahin unbekannten Ausmaß. Im Ahrtal starben 134 Menschen, im Kreis Euskirchen waren es 26, ganze Ortschaften mussten von der Feuerwehr aufgegeben werden.

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Professor Dr. Jürgen Herget forscht am Geographischen Institut der Universität Bonn und war Sachverständiger in der Enquete-Kommission des rheinland-pfälzischen Landtags zum Hochwasser im Ahrtal 2021. Im Interview beantwortet er die Frage, ob man die aktuelle Lage mit der Flutkatastrophe 2021 vergleichen kann und geht näher auf die Entstehung von Starkregen und Hochwasser ein.

Professor Dr. Jürgen Herget. Im Hintergrund eine Bücherwand mit Fachliteratur.

Professor Dr. Jürgen Herget forscht am Institut für Geographie an der Universität Bonn.

Herr Professor Herget, Ende August sind mehrere schwere Unwetter über die Alpen gezogen.  Die Bilder erinnern an das Hochwasser und die Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal, im Kreis Euskirchen und Erftstadt-Blessem. Innerhalb einer Nacht stieg der Pegel der Ahr um mehr als sieben Meter. Bei genauerem Hinsehen unterscheiden sich die Niederschlagsmengen. So wurden im Tessin in der Schweiz bis zu 450 Liter Regen pro Quadratmeter in 72 Stunden gemessen. Bei der Flutkatastrophe 2021 gab es Werte von 100 - 150 Liter pro Quadratmeter in 72 Stunden. Kann man diese Zahlen miteinander vergleichen?

Prof. Dr. Jürgen Herget: Nein, das kann man nicht. Im Jahr 2002 hatten wir in Zinnwald (Erzgebirge) 312 Liter Niederschlag in 24 Stunden. Das ist, was Starkregen angeht, für deutsche Regionen der bisher traurigste Rekord. Das macht es auch ein bisschen schwierig, eine Region südlich der Alpen mit einer Region nördlich der Alpen zu vergleichen. Wir können auch nicht hingehen und Niederschlagswerte aus den Tropen mit Werten aus den mittleren Breitengraden wie Mitteleuropa vergleichen. 

Die Niederschlagsmengen geben uns also keinen sicheren Hinweis darauf, ob und wie Hochwasser entstehen. Wie entsteht denn Hochwasser?

Ein ganz wichtiger Parameter neben der Niederschlagssumme ist die Intensität, also die Menge pro Zeitraum. Ich kann 200 Liter Niederschlag innerhalb eines Monats haben – dann passiert gar nichts. Es gibt aber sogenannte „Gewitterzellen“, also punktuelle Niederschlags-Zellen in unseren Breiten, in denen es extrem stark regnet. Wenn ich die gleiche Menge Regen in einer Stunde habe, dann spricht man ausdrücklich von einem Starkregen-Ereignis.

Der Fluss Brenno führt nach starken Regenfällen in der Südschweiz viel Wasser.

Der Fluss Brenno führt nach starken Regenfällen in der Südschweiz viel Wasser.

Bei Starkregen-Ereignissen passiert folgendes: Ich habe eine Niederschlagsgeschwindigkeit, mit der der Regen fällt. Gleichzeitig gibt es eine Geschwindigkeit, die das Wasser braucht, um im Boden zu versickern. Der freie Fall des Regens durch die Atmosphäre ist aufgrund der Schwerkraft kein Problem. Sobald das Wasser aber jedes Sandkorn im Boden umfließen muss, wird es deutlich langsamer. In der Zwischenzeit kommen weitere Regentropfen hinzu, die nicht versickern können, sondern sich an der Oberfläche sammeln und dort sofort abfließen. Die Intensität ist ein Faktor, bei der die Niederschlagsgeschwindigkeit größer ist als die sogenannte Infiltrationskapazität. Fertig ist das Hochwasser.

Sehr starker Regen kann also schneller fallen als versickern.

Genau. Ein weiterer Faktor ist die Sättigung des Bodens. Wenn es in den Tagen davor geregnet hat – auch wenn auch nur mäßig geregnet hat – und der ganze Untergrund, alle Zwischenräume zwischen Sand und Kies, sind schon mit Wasser gefüllt, dann kann das Wasser nicht mehr versickern. Alles bleibt an der Oberfläche zurück und muss sofort oberirdisch abfließen.

In beiden Fällen haben wir es mit der Niederschlagsintensität zu tun. Das ist ein ganz wichtiger Parameter. Wie viel Niederschlag in welchem Zeitraum? Das macht nochmal einen großen Unterschied.

Eine andere Möglichkeit ist, dass der Boden zu trocken ist. Auch dieses Problem existiert. Die Bodeneigenschaften einer Region lassen sich nicht ohne weiteres ändern.

Die Bodeneigenschaften einer Region und die Niederschlagsintensität sind also wichtige Faktoren. Woher kommt der Starkregen in den Schweizer Alpen?

Die Ursache dafür ist der sogenannte Steigungsregen. Das bedeutet, dass die Luftmassen vor den Alpen bis auf 3000 Meter Kammhöhe aufsteigen müssen. Dabei kühlt sich die Luft ab und die relative Sättigung nimmt zu. Sobald die relative Luftfeuchtigkeit 100 Prozent erreicht, kommt es zur Kondensation. Es bilden sich Wolken – und es beginnt, zu regnen. Die Luftmassen regnen so lange ab, bis sie leicht genug geworden sind, um über die Berge zu kommen. Das sind Stau-Niederschläge. Diese an sich normale Wetterlage führt dazu, dass wir in Deutschland am Alpennordrand in Bayern die höchsten Niederschlagsmengen haben: bis zu 2000 Liter Niederschlag pro Jahr.

Wenn jetzt zum Beispiel große Luftmassen über dem Mittelmeer warm werden, entsprechend viel Feuchtigkeit aufnehmen und dann auf die Alpen treffen, dann haben wir sehr große Wassermengen, die in der Atmosphäre transportiert werden. Diese können entsprechend stark abregnen.

Mit anderen Worten: Je mehr Wasser über dem Mittelmeer verdunstet, desto mehr Regen kann es in den Alpen geben. Könnte der Klimawandel eine Ursache für die Regenmenge sein?

Generell muss man sehr vorsichtig sein, alle Extremwetterereignisse sofort mit dem Klimawandel in Verbindung zu bringen. Dazu müsste man sich ganz konkret diese ganz spezifische Wetterlage und die Rahmenbedingungen anschauen und sich fragen, ob es da etwas Neues im Sinne des Klimawandels gibt. Aber nein, diese Starkregen-Ereignisse spiegeln sich im langjährigen Mittel der Klimawerte wider. Wir haben im Stau vor den Gebirgen typischerweise höhere Niederschlagssummen als in Gebieten ohne Gebirge. Das sehen wir auch bei uns vor der Haustür mit den hohen Niederschlagssummen in der Eifel, im Bergischen Land und Siegerland.

Geröll und Schlammmassen umgeben Häuser nach einem Erdrutsch.

Im Schweizer Kanton Glarus ist es zu einem Erdrutsch gekommen.

Wie kommt es zu Erdrutschen wie im Dorf Schwanden im Kanton Glarus?

Erdrutsche sind im Hochgebirge etwas völlig Normales. Sie kommen auch im Mittelgebirge vor. Die Alpen und andere Gebirge können sich über Hunderttausende von Jahren auftürmen – aber nicht unendlich hoch. Sie werden durch Niederschläge in der Atmosphäre auch wieder abgetragen, also erodiert. Dazu gehören auch „Lockergesteinsmassen“, die so stark mit Wasser durchtränkt werden, dass sie zu schwer werden und als Paket zu Tal stürzen. So entsteht ein Erdrutsch.

Starkregen und Hochwasser können also immer wieder auftreten?

Extreme Wetterereignisse treten immer wieder auf und man kann aus der Geschichte viel lernen. Messwerte, die statistisch ausgewertet werden und aus denen dann Mittelwerte und Wiederkehrhäufigkeiten berechnet werden, haben ein bisschen das latente Problem, dass die Extremwerte, wie wir sie aus der Geschichte kennen, gar nicht erfasst werden. Und da wäre es eine wichtige Erkenntnis, aus Ereignissen wie Starkregen, aber auch Dürre-Ereignissen oder Wintereinbrüchen, aus dem Erfahrungsschatz zu lernen und das noch zu berücksichtigen.

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