Kanzlerin wird persönlichWie Merkel das Afghanistan-Desaster erklärt

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Bundeskanzlerin Angela Merkel

Hinterher, im Nachhinein, sagt Angela Merkel, seien präzise Analysen nicht wirklich kompliziert. Sie wiederholt es noch einmal: „Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen - das ist relativ mühelos.“ Zehn Minuten nach Beginn ihrer Regierungserklärung gestattet sich die Kanzlerin am Mittwoch im Bundestag diese „zugespitzte persönliche Anmerkung“, wie sie es formuliert.

Die 67-Jährige hat in ihren 16 Jahren Kanzlerinschaft viele Regierungserklärungen gehalten und diese selten mit zugespitzten persönlichen Anmerkungen versehen. Nun, in ihrer vermutlich wirklich letzten Regierungserklärung, nimmt sie sich diese Freiheit.

Ein Eingeständnis gravierender Fehler

Es spricht daraus Geringschätzung für Besserwisser, die von den Schwierigkeiten eben nichts wissen, Deutschland zu stabilisieren in einer Krise wie der blitzschnellen Zerstörung eines 20 Jahre währenden Afghanistan-Einsatzes durch radikale Taliban. Es spricht daraus aber auch das Eingeständnis gravierender Fehler. Vieles ist in diesem langen Einsatz dramatisch falsch gelaufen. Vor allem der von den USA initiierte Abzug der Nato-Truppen, auf den die Taliban für die Rückeroberung der Macht nur gewartet haben.

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Der Westen hat zwar sein Ziel erreicht, dass Afghanistan nach den Anschlägen auf die USA 2001 nicht Basis islamistischer Terroristen blieb. Aber er hat sein Ziel verfehlt, Demokratie, Menschen- und Frauenrechte am Hindukusch dauerhaft zu implementieren. Der Preis ist hoch: Viele Tote und Verletzte und Traumatisierungen bei den internationalen Truppen und in der afghanischen Zivilbevölkerung, bitter enttäuschte Hoffnungen in Afghanistan sowie ein von Taliban gedemütigter Westen, der jetzt zu einem Ende mit Schrecken bereit zu sein scheint.

Eine emotionale Debatte im Bundestag

Die Debatte im Bundestag ist emotional. Die Linke betont, dass sie schon immer gegen den Einsatz war. Selbst das am Mittwoch im Nachhinein erteilte Bundeswehr-Mandat für die seit Tagen laufende Rettung deutscher Staatsbürger und afghanischer Ortskräfte aus Kabul unterstützt sie nicht. Das veranlasst Redner von Union und FDP, in den Wahlkampfmodus zu schalten und vor einer Regierung mit Beteiligung der Linkspartei zu warnen. Mit ihr sei kein Staat zu machen.

Die steigenden Umfragewerte der SPD und ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz sorgen für größte Nervosität im schwarz-gelben Lager, das bislang recht sicher von einer Jamaika-Koalition nach der Bundestagswahl ausgegangen war. Bei der Abstimmung enthalten sich die meisten Abgeordneten der Linken. Das Mandat wird mit der großen Mehrheit von 539 der 638 gültigen Stimmen beschlossen.

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Die im Wahlkampf vor allem durch einen geschönten Lebenslauf angeschlagene Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock tritt ans Mikrofon. Sie weiß, dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden wird. Sie hält eine kämpferische Rede und gewinnt etwas von ihrem Selbstbewusstsein zurück, das sie in den Wochen der hohen Umfragewerte der Grünen hatte. Sie fordert: „Dieses Desaster jetzt aufklären und nicht schönreden.“ Sie wendet sich dabei direkt an Merkel. Auge in Auge.

Merkel bindet in ihrer Rede das einstige Einstehen des früheren SPD-Verteidigungsministers Peter Struck und Grünen-Außenministers Joschka Fischer für die Afghanistan-Mission ein. Sie verteilt Verantwortung auf mehrere Schultern. In den Ohren der SPD dürfte Merkels jetziges Ja zu Verhandlungen mit militant-islamistischen Taliban über die Bewahrung der westlichen Erfolge am Hindukusch einen bitteren Beigeschmack haben. Schließlich hatte 2007 ihr damaliger Parteichef Kurt Beck zu Friedensgesprächen mit „moderaten“ Taliban aufgerufen - und war dafür verspottet worden.

Merkel stellt kritische Fragen

Merkel macht aber noch etwas. Sie stellt „kritische Fragen“ wie sie sagt: Kamen die Ziele des Einsatzes wirklich bei der Mehrheit der Menschen in Afghanistan an? Hätten die großen kulturellen Unterschiede stärker gewichtet werden müssen? Wurde das Maß der Korruption unterschätzt? Wurde die Kampfbereitschaft der afghanischen Streitkräfte überschätzt? War es nicht mindestens extrem riskant, wenn nicht sogar falsch, 2020 die Verhandlungen für das Abkommen der USA mit den Taliban zum Truppenabzug mit festen Abzugsdaten zu versehen? Es klingt so, als würde Merkel alle Fragen selbst mit Ja beantworten. Hinterher, im Nachhinein.

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