Corona-KriseInfizieren sich gerade so viele Menschen wie noch nie?

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Ein Schild „Bitte Mundschutz tragen“

  • Viele Infektionen mit dem Coronavirus bleiben aktuell unerkannt, die Dunkelziffer ist hoch.
  • Entsprechend trügerisch sind die Zahlen des Robert Koch-Instituts.
  • Kann es also sein, dass der Erreger unbemerkt stärker zirkuliert als jemals zuvor?

Das Treffen mit der Freundin muss ausfallen. Corona. Der Termin beim Friseur ist abgesagt. Corona. Die Familienfeier muss ohne die Tante stattfinden. Corona. Gefühlt ist das Virus gerade wieder überall unterwegs, und verschont nur die wenigsten. Das zeigen auch die Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI): Die Sieben-Tage-Inzidenz, die angibt, wie viele Menschen sich innerhalb der vergangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohner mit dem Coronavirus infiziert haben, beträgt aktuell mehr als 500. Zwischenzeitlich lag sie sogar bei knapp 815.

Es gibt jedoch ein Problem bei den Zahlen: Sie sind nicht aussagekräftig. Die Zahl der Corona-Tests ist in den vergangenen Wochen deutlich zurückgegangen. Immer mehr Menschen verzichten darauf, einen positiven Corona-Schnelltest mittels PCR-Test zu überprüfen. Doch nur Letztere fließen in die Statistiken des RKI mit ein. Die Folge ist eine hohe Dunkelziffer. Viele Infektionen bleiben unerkannt. Kann der Eindruck also stimmen: Ist das Virus gerade stärker in Deutschland verbreitet als jemals zuvor?

Corona-Infektionen: Dunkelziffer variiert

Um das herauszufinden, ist es wichtig, zu wissen, wie hoch die Dunkelziffer bei den Corona-Infektionen ist. Ganz genau weiß das jedoch niemand. Schon seit Beginn der Pandemie gibt es Ansteckungen, die nicht von den Behörden erfasst werden. Das liegt vor allem daran, dass sie symptomlos verlaufen. Wer nicht hustet, schnupft oder Fieber hat, macht auch keinen Corona-Test – und damit bleibt die Ansteckung unerkannt. Gerade unter Kindern und Jugendlichen kommt es vermehrt zu symptomlosen Covid-19-Krankheitsverläufen. Mit den Impfungen und der milderen Omikron-Variante hat sich die Zahl symptomatischer Infektionen in der Bevölkerung weiter verringert.

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Eine Dunkelziffer bei den Infektionen gab es also schon immer. Je nach Zeitraum, Dynamik der Infektionswelle, Testverordnung und Maßnahmen kann sie jedoch variieren, teilt das RKI auf Anfrage mit. Ein weiteres Problem: „Studien zur Dunkelziffer sind aufwendig, Ergebnisse liegen daher nur zeitverzögert vor.“

10 Prozent der Erwachsenen haben sich bis Ende 2021 mit Corona infiziert

Mehr Aufschluss über die wahre Zahl der Infizierten können Antikörpertests geben. Denn bei jeder Infektion bildet der Körper virusspezifische Antikörper, die sich noch Monate nach der Genesung im Blut nachweisen lassen. Das RKI hat vor wenigen Tagen Ergebnisse des „Corona-Monitorings bundesweit – Welle 2″ veröffentlicht. Per Zufallsprinzip hatte die Behörde Menschen ab 14 Jahren dazu eingeladen, eine selbst entnommene Trockenblutprobe für eine Antikörperbestimmung einzureichen, zusätzlich zu einem Fragebogen zum Impf- und Infektionsstatus. Die Studie umfasste den Zeitraum November 2021 bis Februar 2022, als die zweite Corona-Welle in Deutschland eingesetzt hatte. Auslöser war die Corona-Variante Delta gewesen.

Die untersuchten Blutproben zeigten: Die Mehrzahl der Teilnehmenden war bis Ende 2021 mit dem Coronavirus in Kontakt gekommen – entweder durch eine Impfung oder eine Infektion. Bei rund 92 Prozent der Erwachsenen fanden sich Antikörper gegen den Erreger. Bei den 14- bis 17-Jährigen enthielten 86 Prozent der Proben Antikörper. Auf Basis der gesammelten Daten geht das RKI davon aus, dass bis zum Jahreswechsel 2021/22 etwa 10 Prozent der Erwachsenen eine Infektion mit Sars-CoV-2 durchgemacht haben. Die in der Studie ermittelten Fallzahlen seien wiederum 1,5 bis zweimal höher gewesen als die offiziellen Meldedaten.

Schätzungen zur Dunkelziffer bleiben schwierig

Der wahre Anteil von Infizierten und Genesenen könnte sogar noch höher liegen. Schließlich sind die Teilnehmenden solcher Studien erfahrungsgemäß impfwilliger und vorsichtiger als die allgemeine Bevölkerung. „Es muss daher davon ausgegangen werden, dass in dieser Studie der Anteil Geimpfter in der Bevölkerung überschätzt und der Anteil der Infizierten unterschätzt wird“, heißt es vonseiten des RKIs. Die Auswertung der Daten sei noch nicht abgeschlossen. Dunkelziffer unter Umständen dreimal höher als RKI-Statistik Eine Antikörperstudie zur aktuellen Omikron-Welle gibt es bisher nicht. Schätzungen zur Dunkelziffer bleiben schwierig.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ging zuletzt davon aus, dass die wahren Fallzahlen doppelt so hoch sind wie die gemeldeten. Das sagte er Ende Juni im ARD-Morgenmagazin. „Bei der Dunkelziffer halte ich mindestens Faktor 2 bis maximal Faktor 3 für möglich“, sagte wiederum Thorsten Lehr, Professor für Pharmazie an der Universität des Saarlandes, Anfang Juli gegenüber „ZDFheute“. Er modelliert regelmäßig das Infektionsgeschehen in Deutschland.

Für den 15. Juli 2022, als die Omikron-Sommerwelle allmählich ihren Höhepunkt erreicht hat, würde das bedeuten: Statt der 109.694 gemeldeten Neuinfektionen gab es eigentlich fast 220.000 (bei einer Dunkelziffer mit dem Faktor 2), oder sogar 330.000 (bei einer Dunkelziffer mit dem Faktor 3). Folglich hätte es zu diesem Zeitpunkt genauso viele Infektionen gegeben wie in diesem Frühjahr, dem bisherigen Rekordhoch der Corona-Fallzahlen. Unbemerkt könnten während der Sommerwelle sogar neue Spitzenwerte bei den Neuinfektionen zustande gekommen sein.

Corona-Krankenstand erreicht neues Rekordhoch

Dass zurzeit viele Menschen an Covid-19 erkrankt sind, untermauern auch aktuelle Daten der Krankenkasse Barmer. Demnach hat sich die Zahl der coronabedingten Krankschreibungen in Deutschland in den vergangenen Wochen beinahe verdoppelt. 64 Arbeitsunfähige je 10.000 Versicherte waren es noch in der 22. Kalenderwoche (29. Mai bis 4. Juni); in der 26. Kalenderwoche (26. Juni bis 2. Juli) stieg die Zahl dann auf 123 Arbeitsunfähige je 10.000 Versicherte. Es zeigten sich dabei deutliche regionale Unterschiede: Besonders viele Krankschreibungen gab es in Niedersachsen (171 je 10.000 Anspruchsberechtigte), gefolgt von Schleswig-Holstein (169 Betroffene) und Rheinland-Pfalz (154 Betroffene).

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Der Dachverband der Berufskrankenkassen BKK-DV spricht sogar von einem neuen Rekordwert beim Krankenstand. Im ersten Halbjahr 2022 waren 5,7 Prozent der Krankenkassenmitglieder krankgeschrieben. „Nie waren seit 2011 die Fehlzeiten auch nur annähernd so hoch“, heißt es in einer Pressemitteilung des Verbandes.

Grund dafür sei jedoch weniger Corona, sondern andere Erkältungserreger. Zeit zum Durchatmen gibt es für Beschäftigte und Unternehmen somit nicht, es fehlt vielerorts an Personal. „Umso wichtiger ist es deshalb, dass spätestens jetzt die notwendigen Vorkehrungen für den kommenden Herbst beziehungsweise Winter getroffen werden, um einen weiteren Anstieg des Krankenstands und somit Personalengpässen vorzubeugen“, sagte Franz Knieps, BKK-DV-Vorstandsvorsitzender.

Neue Infektionswelle im Herbst macht bessere Überwachung notwendig

Im Herbst werden nicht nur die Erkältungskrankheiten weiter zulegen, sondern auch die Covid-19-Fälle. Fachleute rechnen mit einer weiteren Infektionswelle – ausgelöst entweder durch die jetzigen Omikron-Varianten BA.4 und BA.5 oder durch eine neue noch unbekannte Virusvariante. Umso wichtiger ist es, das Infektionsgeschehen in den kommenden Monaten genau im Blick zu behalten – und das am besten mit so präzisen Daten zu Infektionsfällen, schweren Erkrankungen und Todesfällen wie möglich.

Krankschreibungen allein werden dabei nicht helfen. Sie vermitteln kein vollständiges Bild des Infektionsgeschehens, da sich nicht alle Corona-Infizierten krankschreiben lassen. Antikörper liefern wiederum zeitverzögerte Daten und bilden nur die Immunität in einem Teil der Bevölkerung ab. Wie sonst lässt sich also das Infektionsgeschehen erfassen und die Dunkelziffer minimieren?

RKI: Vollständige Erfassung der Infektionen nicht angestrebt

Alle Corona-Infektionen zu erfassen, sei weder möglich noch notwendig, stellt das RKI in seinem Wochenbericht klar. Die Dunkelziffer wird also bleiben. In erster Linie geht es der Behörde darum, Infektionshotspots in Deutschland zu detektieren. Dabei hilft die syndromische Surveillance. Diese funktioniert wie folgt: Arztpraxen und Krankenhäuser melden dem RKI alle Patientinnen und Patienten, die bei ihnen mit einer akuten Atemwegserkrankung vorstellig geworden sind. So lässt sich abschätzen, wie viele symptomatische Erkrankte, Arztbesuche und Krankenhauseinweisungen es gibt. Das System diente vor Corona vor allem dazu, Grippewellen zu analysieren.

Welcher Krankheitserreger für die jeweiligen Erkrankungen verantwortlich ist, lässt sich mithilfe einer virologischen und molekularen Surveillance herausfinden. Damit kann das RKI gleichzeitig feststellen, welche Corona-Varianten sich aktuell in der Bevölkerung ausbreiten. Bei der Auslastung der Intensivstationen vertraut die Behörde weiterhin auf die Daten des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. Für Gesundheitsminister Lauterbach reicht das nicht aus: Er will im Herbst zusätzlich das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz, kurz Demis, nutzen. Das soll den Austausch zwischen Kliniken und Gesundheitsbehörden verbessern.

Abwassermonitoring als Corona-Frühwarnsystem?

Einige Expertinnen und Experten raten ferner dazu, ein nationales Abwassermonitoring zu etablieren. Denn Infizierte setzen das Virus nicht nur frei, wenn sie husten, niesen oder sprechen, sondern auch wenn sie auf Toilette gehen. Im Stuhl finden sich Fragmente des Genmaterials von Sars-CoV-2 wieder, die sich später im Abwasser nachweisen lassen. Der Vorteil des Abwassermonitorings ist: Schon geringste Mengen des Virus lassen sich aufspüren, und das sogar noch bevor die ersten Symptome bei den Infizierten auftauchen. Das System erfasst demnach auch asymptomatische und milde Erkrankte.

Noch sei jedoch nicht klar, inwiefern das Abwassermonitoring als Corona-Frühwarnsystem geeignet ist, erklärt das RKI. Es gibt bereits ein von der EU gefördertes Pilotprojekt, dessen Ergebnisse im März kommenden Jahres erwartet werden. „Der Verlauf der Covid-19-Pandemie kann nur im Zusammenspiel mit den anderen etablierten Surveillancesystemen bewertet werden“, macht das RKI deutlich. „Ob aus den Sars-CoV-2-Abwasserdaten Rückschlüsse auf die tatsächliche Anzahl der infizierten Personen erfolgen können, ist aktuell Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion.“

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