Deutschland in der Pandemie„Wir schaffen das“ oder ein Versagen der Politik?

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Markus Söder (v.l.n.r.), Angela Merkel und Peter Tschentscher

  • Deutschlands Pandemiebilanz könnte am Ende besser ausfallen als die der meisten Staaten der Welt, meint Matthias Koch.
  • Es tut sich was, aber viel zu wenig. Eine Verlagerung der Kompetenzen hin zum Bund ist überfällig, findet dagegen Dirk Schmaler.
  • Zwei Standpunkte zur Corona-Politik.

„Und, wie läuft es bei euch so in Deutschland?“ Was soll man sagen, wenn Freunde aus dem Ausland eine solche Frage stellen? Nun ja. Deutschland mogelt sich so durch. Wir impfen langsamer als andere – aber schneller als bisher. Wir haben wachsende Infektionszahlen – die aber geringer sind als in acht unserer neun Nachbarstaaten. Die Intensivstationen füllen sich – aber unwürdige Szenen wie in vielen anderen Staaten der Erde haben wir bislang erfolgreich vermieden. Land und Leute sind weiter unterwegs auf einem Mittelweg, der keinen begeistert. Wie auch? Die einen wollen mehr Lockdown, die anderen mehr Lockerung.

Vor allem will das Volk in Zeiten der Angst einen klaren Kurs und starke Führung. Angela Merkel aber bot ihren Deutschen beides nicht. Liegt das an ihrer Abneigung gegen Pathos, an ihrer uckermärkischen Art? Von Anfang an mutete die Kanzlerin den Regierten etwas zu, was sonst nur Regierende auf sich nehmen: Unklarheiten und Widersprüche. Der Witz ist: Ihre Politik könnte sich am Ende trotzdem als relativ erfolgreich erweisen.

Gewiss: Im Augenblick sieht es nicht danach aus. Erst wurden Berlins „Impfversager“ („Bild“) von den Medien gesteinigt. Dann begann bei Markus Lanz ein allabendlicher Aufmarsch der Besserwisser, die zwar unterschiedliche Ideen mitbringen, aber die immer gleiche Attitüde: Wir wären längst viel weiter, wenn die Politik endlich Folgendes beachten würde...

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Viele sprechen von Staatsversagen in der Pandemie

Staatsversagen: Debatten über dieses neue Buzzword könnten im Superwahljahr vier Parteien neue Wähler zutreiben, AfD, Grünen, Liberalen und Linken. Mit Blick auf die angeschlagene Union breitet sich schon eine Hau-den-Lukas-Stimmung aus. Youtuber Rezo fordert wieder ihre „Zerstörung“, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) verlangt fröhlich mal die Entlassung des Gesundheitsministers, mal die des Wirtschaftsministers, mal beides am gleichen Tag.

ARD-Altmeister Ulrich Wickert setzte noch eins drauf und verkündete jüngst in einer Talkshow: „Wir brauchen einen Helmut Schmidt.“ Der habe als Hamburger Innensenator bei der Sturmflut 1962 an allen Regelungen vorbei „direkt bei der Nato angerufen“. Bei der Nato? Immer mehr Deutsche spüren, dass solche Dampfplaudereien nicht weiterhelfen. Sie passen auch schlecht in eine Zeit, in der die Bundeswehr etwa im Saarland beim 24-Stunden-Impfen die Nachtschichten organisiert. Das schnellere Impfen trägt bundesweit längst zu einem Stimmungswandel bei, noch nicht in Berlin-Mitte und in den Talkshows – aber bei dankbaren Menschen überall im Land.

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Impfchaos? Desaster? 12,7 Millionen Deutsche haben inzwischen bei ihrer eigenen Impfung genau das Gegenteil erlebt. Viele waren beeindruckt von der freundlichen Art des Umgangs in den Impf zen tren und Arztpraxen. Deren engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen dem Land derzeit nicht nur medizinisch. Jede Spritze in den Arm ist in diesen Tagen auch ein Stück Immunisierung gegen populistische Aufwallungen. Den politischen, vielleicht sogar parteipolitischen Effekt wird man im Verlauf dieses Jahres noch spüren. Die heillos überdrehte Berliner Republik jedenfalls ist reif für ein Update. Ja, Fehler sind passiert, die Liste ist lang. Aber dass anderswo alles besser ist, nimmt eine wachsende Zahl von Deutschen den Schwarzmalern nicht mehr ab.

Israel? Das Neun-Millionen-Einwohner-Land, halb so groß wie NRW, hat, Glückwunsch, durch einen Deal mit Pfizer genug Impfstoff beschafft im Austausch gegen einen Direktzugang des US-Konzerns zu allen Patientendaten. In der EU wäre eine solche Abmachung datenschutzrechtlich undenkbar.

Großbritannien? Die schnelle Impfkampagne – auch hier: Glückwunsch – macht die 127.000 britischen Corona-Toten nicht mehr lebendig. Boris Johnsons haarsträubender anfänglicher Versuch, Herdenimmunität per Durchseuchung zu erzielen, hat kolossalen Schaden hinterlassen. Von 100 000 Briten starben 191, in Deutschland liegt die Quote bei 94.

USA? Trotz 117 Millionen Impfungen – das ist Weltrekord – steigt die 7-Tage-Inzidenz wieder und liegt mit 145 höher als in Deutschland. Einen Kaffee bei McDrive zu holen ist und bleibt im Münsterland weit weniger riskant als in Michigan oder Minnesota. Deutschland hat keinen Grund, die Fassung zu verlieren, im Gegenteil. Wenn alle noch ein bisschen mithelfen, könnte unsere Pandemiebilanz am Ende, trotz vieler Fehler und Defizite, immer noch besser ausfallen als die der meisten Staaten der Welt. Besser als immer neue Wellen von Missmut und Meckerei jedenfalls wäre eine neue Welle von Solidarität. Wir schaffen das.

Matthias Koch

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Die Politik ist unfähig zur Entscheidung

Aus der Psychologie gibt es einen Begriff, der die aktuelle Lage in Deutschlands Politik ganz gut zusammenfasst. Er lautet Abulie. Die armen Menschen, die unter diesem Symptom leiden, würden eigentlich gern etwas Bestimmtes tun, können aber nicht den Entschluss fassen, es tatsächlich anzugehen. Gute Vorsätze werden nie ausgeführt, wichtige Handlungen werden immer wieder verschoben. Die Folgen für die Betroffenen sind dramatisch: Die Unfähigkeit zur Entscheidung führt zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags, Sprachlosigkeit und nicht selten sozialer Isolation.

Deutschlands Politik leidet seit Wochen unter akuter Abulie – und das inmitten einer Pandemie, in der schnelles, entschiedenes Handeln Leben rettet. Osterruhe? Zu kompliziert, abgesagt. Brückenlockdown? Nicht konkret genug, abgelehnt. Vorgezogene Ministerpräsidentenkonferenz? Unmöglich.

Wer noch einen letzten Beweis dafür brauchte, dass Deutschland nicht nur in der Corona-Krise, sondern auch in einer Regierungskrise steckt, musste am Freitag kopfschüttelnd den bis dato jüngsten Beschluss zur Untätigkeit zur Kenntnis nehmen: Der seit Wochen für Montag geplante Bund-Länder-Gipfel fällt aus. Der erklärte Grund glich einer Kapitulation: Man könne sich dort eh auf keine neuen Maßnahmen einigen. Während viele Ministerpräsidenten die Öffnungen von Schulen und Einkaufsstraßen wider allen Expertenrat zur Staatsräson erhoben haben, vollziehen sie vor aller Augen den Lockdown in eigener Sache.

Änderung des Infektionsschutz-Gesetzes ist überfällig

Immerhin scheint diese Aussicht letztlich noch ein Lebenszeichen aktiviert zu haben. Man ahnt zwar, dass die von der Bundesregierung am Freitag überraschend verkündete Einigung über eine im Bundesinfektionsschutzgesetz verankerte Notbremse für Regionen mit hohen Ansteckungsraten längst noch nicht ausverhandelt ist. Und ob sie ausreicht, um die dritte Welle zu brechen, ist auch sehr fraglich. Dennoch ist es ein erstes Hoffnungszeichen.

Der Erfolg wird zeigen, ob Kanzlerin Angela Merkel vielleicht doch noch nicht alle Macht und allen Einfluss eingebüßt hat, um ihre Richtlinienkompetenz – und damit geeignete Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung – durchzusetzen.

Eine Verlagerung der Kompetenzen hin zum Bund ist dringend überfällig – weit über die Notbremse hinaus. Eine Pandemie zeichnet sich per Definition dadurch aus, dass sie weltweit ist. Wir sollten die Bekämpfung deshalb nicht Bürgermeistern und Landesfürsten überlassen, die es allzu oft Interessengruppen recht machen wollen und sich schon gut fühlen, solange sie noch irgendwo eine Region auf der Inzidenz-Deutschland-Karte finden, die es noch schlechter getroffen hat.

Die Pandemiebekämpfung ist eigentlich viel weniger kompliziert, als es das wochenlange Gezänk suggeriert. Deutschland braucht nach dem milden Lockdown und dem etwas härteren Lockdown und dem Lockdown mit Öffnungsperspektiven nun endlich einen strengen, schnellen Lockdown, der geeignet ist, die Verbreitung des Virus tatsächlich deutlich einzudämmen. Eine Abkürzung etwa durch Tests bei gleichzeitigen Öffnungen funktioniert leider nicht. Man hat das in Ländern wie Großbritannien oder Portugal, zuletzt auch in Österreich ausreichend studieren können.

Modellversuche und Lockerungen müssen zurückgenommen werden

Deshalb müssen alle euphemistisch als Modellversuche deklarierten Öffnungen von Einkaufszonen und Gastronomie zurückgenommen werden. Sie bringen den Kaufleuten keine wirkliche Erholung und sorgen nur dafür, dass der Wischiwaschi-Lockdown insgesamt länger andauert.

Die Schulen müssen auf Distanzunterricht umgestellt werden – auch bei den Jüngsten. Und die Betriebe müssen im Homeoffice arbeiten, wenn sie nicht glaubhaft machen können, dass das nicht möglich ist. Das alles ist schmerzhaft, aber im Gegensatz zu allen Placebomaßnahmen wird es höchstwahrscheinlich wirken. Und damit das Leiden insgesamt deutlich verkürzen und tatsächlich viele Menschenleben retten.

Während das Land dann herunterfährt, hätte die Politik Zeit, das massenhafte Testen vorzubereiten, ein stimmiges und wuchtiges Konzept für verantwortungsvolle Schulöffnungen zu erarbeiten und sich auf die nächste Phase der Pandemie vorzubereiten. Eine Zeit, in der viele Unternehmen sich fragen werden, wie sie in die Zukunft gehen können. Und eine Zeit, in der sich die Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte aufteilen wird. Wie organisiert man in dieser Zeit Öffnungen? Was ist gerecht? Auf diese Fragen werden die Virologen tatsächlich immer weniger Antworten geben können. Dann schlägt die Stunde des Abwägens und des politischen Ausgleichs.

Dirk Schmaler

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