Ein Jahr VerteidigungsministerinChristine Lambrechts schier endlose Pannenserie

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Christine Lambrecht (SPD), Bundesministerin der Verteidigung, beim Besuch des Panzergrenadierbataillons 371 in der der Erzgebirgskaserne.

Christine Lambrecht (SPD), Bundesministerin der Verteidigung, beim Besuch des Panzergrenadierbataillons 371 in der der Erzgebirgskaserne.

Angeblich will Verteidigungsministerin Christine Lambrecht das Amt niederlegen – politisch war sie von Anfang an nicht auf Ballhöhe. Eine Rückschau.

Ein Satz, den der Kanzler Anfang Dezember 2021 über Christine Lambrecht sagte, wird jetzt öfter hervorgekramt – mal staunend, mal spöttisch. „Sie wird eine ganz, ganz bedeutende Verteidigungsministerin sein“, sagte Olaf Scholz, als er die SPD-Mitglieder für das Ampel-Kabinett vorstellte.

Noch ein Jahr später, da stand die 57-Jährige längst erheblich unter Druck, sagte Scholz, sie eine „erstklassige Verteidigungsministerin“ – eine Feststellung, die Vizeregierungssprecher Wolfgang Büchner nach dem hochgradig umstrittenen Silvestervideo auf Nachfrage bestätigte. „Ja, selbstverständlich“ sei sie das, sagte er in der Bundespressekonferenz. Am Freitagabend meldete die „Bild“-Zeitung dann, die angeblich ebenso bedeutende wie erstklassige Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt wolle ihr Amt niederlegen.

Legt Christine Lambrecht ihr Amt nieder?

Andere Medien berichteten dies mit eigenen Quellen ebenso. Dass ein Sprecher des Ministeriums lediglich sagte, „Dies sind Gerüchte, die wir nicht kommentieren“, unterstrich den Eindruck. Normalerweise werden derlei Berichte eiligst dementiert, um den Betroffenen erstmal nicht zu beschädigen. Gehen kann er später ja immer noch.

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Das Berliner Regierungsviertel hat es so gesehen mit einer Lage zu tun, die es so bisher noch nicht gab. Während niemand im Land daran zweifelt, dass Lambrecht nach einer schier endlosen Pannenserie tatsächlich Abschied nimmt, und die Suche nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger längst begonnen hat, gibt es für den Rücktritt selbst zwei Tage nach den ersten Meldungen keine offizielle Bestätigung.

Die Amtsinhaberin und ihr Chef verharren wie Maulwürfe unter der Grasnabe – mutmaßlich, bis Olaf Scholz am Montag wie nach einem römischen Konklave sagen kann: „Habemus Verteidigungsminister/in“.

Kein vergleichbarer Fall

Auf Anhieb ist kein vergleichbarer Fall erinnerlich. Lambrecht, die bis zur Bundestagswahl als Justizministerin amtierte, wollte eigentlich aus der Politik aussteigen. Es gebe auch noch ein Leben jenseits der Politik, sagt sie. Rückblickend wirkt es ein wenig so, als sei diese Absicht allein der Tatsache geschuldet gewesen, dass die Frau aus Hessen sowohl der SPD als auch sich selbst keine Karrierechancen mehr einräumte. Denn als Scholz die Sozialdemokraten zum Wahlsieg führte, ließ sie sich bereitwillig wieder ins Gespräch bringen.

Zwar lag der russische Angriff gegen die Ukraine zum Zeitpunkt der Regierungsbildung schon in der Luft. Dennoch dürfte der Kanzler wohl gedacht haben, dass es auf das Verteidigungsministerium wie in den drei Jahrzehnten zuvor seit dem Fall der Mauer nicht mehr so richtig ankomme.

Christine Lambrecht plötzlich im Fokus

Russlands Präsident Wladimir Putin hat die Agenda dann bekanntlich radikal umgeschrieben. Plötzlich wurde aus der Nebendarstellerin Lambrecht eine Hauptdarstellerin. Alle schauten auf sie. Einmal im Amt, war die Ministerin politisch von Anfang an nicht auf Ballhöhe.

Obwohl international längst über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine debattiert wurde, stellte sie dem existenziell bedrohten Land stolz 5.000 Schutzhelme in Aussicht. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nannte dies: einen „Witz“. Die Entscheidung über das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr verkündete Scholz im Bundestag höchstpersönlich. Er trat auch selbst mit Generalinspekteur Eberhard Zorn in einen Austausch darüber, wie das Geld zu verwenden sei.

Als im Herbst ruchbar wurde, wie groß der Mangel an Munition ist, unter dem die Bundeswehr leidet, fand das Spitzengespräch zur Lösung des Problems in der Regierungszentrale statt und nicht im Verteidigungsministerium. Dessen Chefin hatte nichts zu sagen. Es entstand erst gar keine Autorität, die Lambrecht hätte verlieren können.

Hinzu kamen mehrfache Seltsamkeiten. So nahm Lambrecht ihren Sohn bei einem Hubschrauberflug mit und fotografierte ihn dabei. Der Sohn postete das Foto bei Instagram, wo es nicht bloß die „Bild“-Zeitung leicht finden konnte. Bald darauf sagte Lambrecht, dass ihre ebenfalls aus Hessen kommende Kabinettskollegin Nancy Faeser nächste Ministerpräsidentin des Landes werden würde; dabei hat Faeser ihre Spitzenkandidatur für die SPD bis heute nicht erklärt.

Nachdem sich die Kritiker zwischenzeitlich wieder beruhigt hatten, brachte das Silvestervideo das Fass zum Überlaufen. Lambrecht hatte sich in Berlin auf einen menschenleeren Platz gestellt und von Böller-Lärm mehrfach übertönt gesagt: „Mitten in Europa tobt ein Krieg. Und damit verbunden waren für mich ganz viele besondere Eindrücke, die ich gewinnen konnte - viele, viele Begegnungen mit interessanten und tollen Menschen.“

Es entstand ein letztes Mal der Eindruck, dass ihr jedes Gefühl dafür abgeht, was angemessen ist und was nicht. Auf Reisen – egal ob nach Mali, in die Slowakei oder zuletzt ins sächsische Marienberg – versteckte sich Lambrecht regelrecht vor mitgereisten Journalisten. Die bekamen die Ministerin bei streng choreografierten Besuchsprogrammen nur noch aus größerer Entfernung und bei vereinzelten Statements zu Gesicht. Sonst übliche Hintergrundgespräche entfielen.

Lange bevor die Rücktrittsmeldungen am Freitagabend die Runde machten, was deshalb klar: So kann man das Bundesministerium der Verteidigung eigentlich nicht mehr führen. Die Frage ist, wer, vorzugsweise in der SPD, es führen kann – vorausgesetzt, Lambrecht tritt am Montag tatsächlich ab. Als weibliche Kandidaten gelten die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, die selbstbewusste Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, sowie Siemtje Möller, Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium. Männer, die gehandelt werden, sind SPD-Chef Lars Klingbeil oder auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.

Würde der Kanzler ihn fragen und Heil Ja sagen, müsste an seiner Stelle eine Frau das Bundesarbeitsministerium übernehmen. Dann wäre die angestrebte Geschlechterparität in der Regierung wieder gewahrt.

Scholz ist bekannt dafür, dass er derlei Entscheidungen nur im allerengsten Kreis bespricht. Dass weit vorher etwas durchsickert, ist denkbar, aber unwahrscheinlich. Dafür melden sich Experten mit Kriterien zu Wort, was eine Ministerin oder ein Minister mitbringen müssten, um Erfolg zu haben.

Wer könnte auf Christine Lambrecht folgen?

„Die Verteidigungspolitik ist für Deutschland inzwischen existenziell geworden; das ist kein politisches Nebenthema mehr“, sagt der frühere Wehrbeauftragte und SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels. „Daran sollte sich die Entscheidung über die Nachfolge ausrichten. Der Kanzler braucht jemanden mit großem politischem Kampfgewicht.“ So müsse die Zeitenwende ja erst noch durchgesetzt werden, in der Koalition, in der SPD, im Bundestag. Ferner solle der Amtsinhaber unbedingt Organisationserfahrung haben, so Bartels. „Die Streitkräfte sind ein Riesenapparat, der geführt werden muss und sich nicht von selbst führt. Ein bisschen Liebe zur Bundeswehr gehört ebenfalls dazu.“

Und schließlich sei das Amt des Verteidigungsministers ein internationales Amt. „Sich da schon ein bisschen auszukennen, kann nicht schaden.“ Der einstige Generalinspekteur Hans-Peter von Kirchbach nennt als Voraussetzungen ebenfalls: eine Befähigung zur Führung großer Organisationen, internationale Erfahrung, politischer Rückhalt in Fraktion und Koalition, Neigung zur Aufgabe, Durchsetzungskraft sowie Empathie für die Soldatinnen und Soldaten. „Es müsste ein politisches Schwergewicht sein“, sagt er. „Worauf es nicht ankommt, ist das Geschlecht.“

Abgesehen davon, wer es würde, sollte Lambrecht weichen, wäre noch offen, wie sie sich verabschiedet – nach der Vorgeschichte. Jede Prognose, das darf man wohl sagen, wäre gewagt.

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