Merkel und PutinEine Zweckehe von Ambivalenz geprägt

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Putin Merkel Blumen

Es gab Blumen von Wladimir Putin für Angela Merkel (r.).

Moskau/Berlin – Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass eine deutsche Regierungschefin im 80. Jahr nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion an dieses Unrecht erinnert. Und so tat Angela Merkel bei ihrem wohl letzten Arbeitsbesuch in Moskau an diesem Freitag in ihrem ersten Statement genau das. Doch schon im zweiten Satz deutete sie an, dass sich das vor ihr liegende Gespräch mit Präsident Wladimir Putin deutlich jenseits der diplomatischen Praxis gestalten könnte. „Selbst wenn wir heute tiefgreifende Differenzen haben“, sagte die Kanzlerin in Richtung des neben ihr sitzenden Kreml-Chefs, „so sprechen wir heute zumindest miteinander.“

Putin schaffte es nicht ganz, den Ausdruck von Langeweile aus Mimik und Gestik herauszuhalten. Zu lange kennt er dieses Procedere. Denn es gibt keine westliche Politikerin und keinen westlichen Politiker, die oder der so anhaltend mit dem Kreml-Chef zu tun hatte wie Angela Merkel. Als sie 2005 Bundeskanzlerin wurde, war er schon seit knapp fünf Jahren im Amt. In den 16 Jahren, die seither vergangen sind, war Putin immer präsent – zwölf Jahre als Präsident und vier Jahre als Ministerpräsident. Im selben Zeitraum kamen und gingen vier US-Präsidenten, vier französische Staatspräsidenten, fünf britische und vier kanadische Premierminister sowie neun italienische Regierungschefs. Nur im Kreml oder im Moskauer Weißen Haus saß immer derselbe Mann.

In dieser langen Zeit ist zwischen Merkel und Putin eine Beziehung entstanden, die von großer Ambivalenz geprägt ist. Denn in mancher Hinsicht sind sich die beiden durchaus ähnlich, andererseits tun sich aber auch große Unterschiede auf.

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Zunächst einmal springen die biografischen Überschneidungen ins Auge. Fast gleichaltrig wuchsen beide in einer sozialistischen Diktatur auf und erlebten den Zusammenbruch dieses Gesellschaftsmodells sowie den Übergang zu einer neuen Ordnung. Sie wissen aus eigener Erfahrung, was das alles bedeutet.

Putin Merkel afp

Angela Merkel und Wladimir Putin (r.) in Moskau.

Obendrein war es beiden bestimmt, in den 1980er Jahren in der DDR zu leben. Der russische Präsident, der damals als KGB-Agent in Dresden im Einsatz war, spricht deswegen fließend Deutsch, während Merkel hervorragende Russisch-Kenntnisse vorweisen kann. Als Schülerin in ihrer brandenburgischen Heimatstadt Templin war sie so gut in der Sprache, dass sie es bis zur Gewinnerin der Russisch-Olympiade auf DDR-Ebene brachte.

Merkel und Putin zollen einander zudem Respekt, weil die/der jeweils andere von derselben Detailversessenheit angetrieben wird. Es ging in die Annalen der europäischen Verhandlungsdiplomatie ein, als Merkel und Putin im Februar 2015 in einem 17-stündigen Verhandlungsmarathon im Normandie-Format einen Waffenstillstand im Krieg in der Ostukraine aushandelten, wobei sie buchstäblich jede einzelne Geschützstellung zum Thema gemacht haben sollen.

Putin inszeniert sich gerne, Merkel nicht

Andererseits gibt es in ihrer Persönlichkeitsstruktur auch große Unterschiede: Putin protzt gerne. Er trägt maßgeschneiderte Anzüge der Edel-Marken Kiton und Brioni für 5000 Euro aufwärts, inszeniert sich als Sportsmann, der Judo kämpft und Eishockey spielt. Bilder, die ihn als Naturburschen mit nacktem Oberkörper, als Biker in Lederkluft oder als Taucher zeigen, der antike Amphoren vom tiefen Meeresgrund an Land holt, werden regelmäßig unters Volk gebracht.

Merkel mag Inszenierungen hingegen überhaupt nicht. Wenn es überhaupt einmal Bilder von ihr gibt, die nicht mit dem Regierungsgeschäft zu tun haben, dann sind das ihre regelmäßigen Besuche bei den Festspielen in Bayreuth, wo sich ihre Opernrobe in den vergangenen Jahren optisch ihren üblichen Hosenanzügen angenähert hat, was unter Glamour-Gesichtspunkten eher suboptimal erscheint.

Seine Art, mit angeberischem Verhalten PR in eigener Sache zu betreiben und seine Methode, sich permanent als Opfer unberechtigter Vorwürfe hinzustellen, kontert sie mit lakonischer Nüchternheit und Geduld.

Hinzu kommt, dass Putin es genießt, zu provozieren, während es immer Merkels große politische Stärke war, Provokationen ins Leere laufen zu lassen. Wenn man Beobachter fragt, ob es ein Bild gibt, dass die Beziehung zwischen der Deutschen und dem Russen auf einen Punkt bringt, dann nennen viele die Aufnahme aus dem Jahr 2007, die Merkel bei ihrem Besuch in Putins Sommerresidenz in Sotschi zeigt. Während des Gesprächs im Kaminzimmer ließ der Präsident seinen Labrador Koni in den Raum, der die Kanzlerin beschnüffelte, der ganz anders wurde, wenn man ihrem Gesichtsausdruck trauen darf. Putin sitzt feixend daneben. Denn er wusste nur zu gut, dass Merkel sich vor Hunden fürchtet, nachdem sie angeblich einmal von einem Rauhaardackel gebissen worden war. Doch die Kanzlerin versuchte ihre Angst zu bändigen. Sie saß die Provokation einfach aus.

Merkels Verständnis für russische Empfindlichkeiten

So ambivalent, wie sich die persönlichen Beziehungen zwischen Merkel und Putin gestalten, so mehrdeutig ist auch die außenpolitische Agenda zwischen Deutschland und Russland nach 16 gemeinsamen Regierungsjahren von Kanzlerin und Präsident.

Was die Rückentwicklung der Demokratie in Russland und die Drangsalierung von Regimekritikern angeht, sprach die Kanzlerin ihre Bedenken Putin gegenüber immer offen an. Gleichzeitig versuchte sie aber auch stets, im Dialog mit ihrem russischen Gegenüber zu bleiben. Russland als bedeutungslose „Regionalmacht“ herabzuwürdigen, „die alleine steht“, wie US-Präsident Barack Obama 2014 geätzt hatte, wäre für Merkel nie in Frage gekommen.

Und sie bewies auch immer wieder Verständnis für russische Empfindlichkeiten: Als Obamas Vorgänger George W. Bush auf dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest forderte, die Ukraine und Georgien in das westliche Verteidigungsbündnis aufzunehmen, schickte Merkel ihren Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor, um dies zu verhindern.

Wenn die deutsch-russischen Beziehungen nun gegen Ende der Ära Merkel trotzdem in einem deutlich schlechteren Zustand sind als zu Beginn ihrer Kanzlerschaft, dann liegt das an der innenpolitischen Entwicklung in Russland und an dem immer aggressiveren außenpolitischen Kurs des Kremls. Bestand 2005 die Hoffnung, dass sich das halb-autoritäre Regime in Russland zu einer liberalen Demokratie entwickeln werde, so fehlt heute nicht mehr viel, um das Land zu einer uneingeschränkten Autokratie zu machen.

Vergiftung Nawalnys brachte das Fass zum Überlaufen

Als sich diese Entwicklung in Putins dritter Amtszeit von 2012 an beschleunigte, wuchs Merkels Misstrauen gegenüber dem Kreml-Chef. Über die Annexion der Krim durch Russland und die Intervention Moskaus in den Bürgerkrieg in der Ostukraine im Jahr 2014 war sie dann geradezu schockiert: „Er lebt in einer anderen Welt“, sagte Merkel nach einem Telefonat mit Putin nach der Krim-Annexion voller Verzweiflung zu Barack Obama. Umso entschlossener boxte die Kanzlerin danach Sanktionen gegen Russland in der EU durch, was den Kreml-Chef sehr irritierte.

Experten seien heute verschiedener Meinung, ob die Krim-Frage den Wendepunkt im deutsch-russischen Verhältnis darstelle, schreibt der „Economist“, oder der vermutlich russische Hackerangriff auf den deutschen Bundestag von 2015, oder aber der mit ziemlicher Sicherheit von Moskau veranlasste Auftragsmord an einem Dissidenten tschetschenischer Abstammung im Berliner Tiergarten im August 2019. „Aber alle sind sich einig, dass der Giftanschlag auf den führenden russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny am 20. August 2020 der letzte Tropfen gewesen ist“, schreibt der „Economist“ weiter, „der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“

Dass Merkel nun ausgerechnet am Jahrestag des Anschlags auf Nawalny zum wohl letzten Mal als deutsche Regierungschefin zu Putin reist, nachdem sie bei der kommenden Bundestagswahl nicht mehr antreten wird, passt zu diesem schwierigen und zugleich engen Arbeitsverhältnis der vergangenen 16 Jahre. Denn die direkte Ansage sind die beiden von einander ja gewohnt. Schon am Mittwoch ließ Merkel den in Moskau zunächst neben ihr sitzenden Regierungssprecher Steffen Seibert verlautbaren: Dieser immer noch ungelöste Fall (Nawalny, Anm. d. Red.) ist eine schwere Belastung des Verhältnisses zu Russland.“ Nur einen Tag später folgte der Konter aus Moskau: Der nun neben Putin sitzende Außenminister Sergei Lawrow warf der Bundesregierung eine „Propagandakampagne“ gegen Russland vor.

Bei allem Misstrauen immer lösungsorientiert

Weitere Streitthemen stehen auf dem Programm. So kreidet Berlin der russischen Seite an, im Konflikt in der Ostukraine weniger zu einer Beilegung beizutragen, als sie könnte. Die deutsche Regierung missbilligt auch, dass Moskau seinen Einfluss auf den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko zu wenig geltend mache, um diesen von repressiven Maßnahmen gegen die belarussische Bevölkerung abzuhalten.

In Bezug auf die Parlamentswahlen, die sowohl in Deutschland als auch in Russland in der zweiten Septemberhälfte anstehen, werfen sich beide Seiten gegenseitig vor, die Abstimmung beeinflussen zu wollen. Deutschland ist nach Einschätzung von EU-Experten derzeit wichtigstes Ziel russischer Desinformationskampagnen, während Moskau davon ausgeht, dass der Westen kremlkritische Organisationen und Medien in Russland finanziell unterstützt.

Selbst bei der russisch-deutschen Ostseepipeline „Nord Stream 2“, die eigentlich ein verbindendes Projekt ist, weil es von Deutschland gegen den massiven Widerstand der USA durchgesetzt wurde, gibt es nun Differenzen. Denn Deutschland will erreichen, dass Russland auch nach Inbetriebnahme der Leitung dauerhaft Gas durch die Ukraine nach Europa pumpt, damit die notorisch klamme Ex-Sowjetrepublik die Milliardeneinnahmen aus dem Transit nicht verliert. Es ist unklar, ob sich Moskau darauf einlassen wird. So bleibt möglicherweise nur Afghanistan als einigermaßen unbelastetes Thema, wobei auch hier die Haltung gegenüber den Taliban unterschiedlich ausfällt.

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Paradoxerweise sind es diese vielen Probleme, die Merkel und Putin auf eine Art aneinanderketten. Denn keine andere westliche Staatenlenkerin und kein anderer westlicher Staatenlenker hat sich so sehr wie Merkel bemüht, bei allem Misstrauen im Verhältnis zum Kreml-Chef lösungsorientiert zu bleiben. Mit der großen Erfahrung, die sie daraus gewonnen hat, versuchte sie ihren westlichen Kolleginnen und Kollegen den russischen Präsidenten auszudeuten. „Manche von ihnen nannten sie „die Putin-Flüsterin„“, schreibt das außenpolitische US-Fachmagazin „The National Interest“. „Ohne ihre Erfahrung und ihren außenpolitischen Scharfsinn könnte sich ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger mit Putin schwertun.“ 

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