„Überlebenswichtiges verweigert“Röttgen kritisiert Ukraine-Politik der Regierung

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Norbert Röttgen (CDU), Bundestagsabgeordneter, spricht zu Beginn der Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags.

Norbert Röttgen ist CDU-Bundestagsabgeordneter. In einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) spricht er über die Ukraine-Politik der Bundesregierung:

Herr Röttgen, hätten Sie am 24. Februar, am Tag des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine durch Russland, gedacht, dass wir auch 100 Tage später noch immer über Kriegsschauplätze im ganzen Land sprechen?

Schon damals ging ich davon aus, dass dieser Krieg sicher Monate dauern wird. Tatsächlich dachte ich aber, dass die russischen Streitkräfte militärisch sehr viel erfolgreicher sind, als wir das in den letzten Monaten erlebt haben. Hätten Sie mich damals gefragt, was ich für eine Situation in 100 Tagen erwarte, wäre ich viel stärker von einem Partisanenkampf der Ukrainer gegen Russland ausgegangen. Doch mit dem beeindruckenden Selbstbehauptungswillen der Ukrainer, damit habe ich gerechnet.

Osteuropäische Politiker enttäuscht

Wie groß ist Deutschlands Imageschaden durch die inkonsistente Ukraine-Politik der Ampel im Ausland zurzeit?

Das muss man fairerweise unterschiedlich bewerten. In Washington wird vor allem gewürdigt, wie schnell, grundlegend und erheblich sich Deutschland positiv verändert hat. Von Politikern unterschiedlicher Parteien bis hin zu Journalisten großer Zeitungen wird diese Entwicklung sehr positiv, fast mit verwunderten Augen gesehen.

Ja, alles dauert etwas länger, als man vielleicht wünscht, aber aus den USA wird das zunächst gewürdigt. Wenn man allerdings mit osteuropäischen Politikern spricht oder Kollegen aus dem Baltikum, dann gibt es da eine riesige Enttäuschung. Diese Länder setzen auf Deutschland, weil sie uns Führung zutrauen und uns viel Vertrauen entgegenbringen. Doch nach gut drei Monaten ist man dort maßlos enttäuscht über die Unklarheiten und das Auseinanderfallen von Reden und Handeln. Diesen Schaden hat die Bundesregierung zu verantworten.

Bundestag forderte Bundesregierung am 28. April bereits auf

Die Lieferungen von schweren Waffen an die Ukraine sind nun mehrfach angekündigt, augenscheinlich passiert aber sehr wenig. Der Bundestag hat am 28. April die Bundesregierung mit einem Mandat quasi aufgefordert zu liefern. Ist das Auseinanderfallen von Reden und Handeln der Bundesregierung schon unterlassene Hilfeleistung?

Was aus meiner Sicht nicht mehr bezweifelt werden kann, ist, dass der Regierung mit dem Bundeskanzler an der Spitze der Wille fehlt, schwere Waffen zu liefern. Damit wird der Ukraine Überlebenswichtiges verweigert. Das ist bitter, aber das muss man leider so feststellen.

Am Mittwoch wieder eine Zusage durch Scholz im Bundestag: Deutschland will Flugabwehr und Mehrfachraketenwerfer liefern. Können wir uns auch hier wieder auf einen monatelangen Prozess einstellen?

Ja, ganz eindeutig. Es war am Mittwoch wieder so, dass der Bundeskanzler das Flugabwehrsystem kurz erwähnt hat. Eine kurze Erwähnung, die so schien, als wäre das jetzt eine unmittelbar bevorstehende Tat. Und in der Rede der Bundesaußenministerin wird in einem Nebensatz erwähnt, dass auch diese Lieferung noch Monate dauern wird. Doch die Ukraine steht jetzt in den verlustreichsten, schwersten Wochen dieses Krieges. Es ist gut und richtig, wenn wir in drei Monaten etwas liefern. Wir müssen, fürchte ich, sowieso nachhaltig Waffen bereitstellen. Doch der Krieg dauert bereits 100 Tage und die Ukraine braucht jetzt dringend schwere Waffen. Und wir könnten ja auch jetzt liefern.

„Viel Zeit verloren“

Kanzler Scholz kündigt die Flugabwehr IRIS-T als ein Instrument an, das alleine den Luftraum einer Großstadt schützen könne. Daraus lässt sich schließen, dass man mit deutscher Hilfe schon viel früher die Zerstörung durch die russische Armee mindestens hätte eindämmen können, wäre man nur bereit dazu gewesen?

Klar ist zumindest, dass wir bei der Unterstützung der Ukraine mit kriegswichtigen Waffen viel Zeit verloren haben. Seit einigen Tagen kommen nun die ersten Lieferungen schwerer Waffen aus den USA in der Ukraine an, und man sieht, dass sich dadurch die Feuerkraft der ukrainischen Armee deutlich erhöht.

Solange es der ukrainischen Armee aber in der Breite an schweren Waffen fehlt, wird es weiter eine militärische Materialüberlegenheit Russlands geben – mit all den blanken Zerstörungen und Ermordungen und den Verbrechen, die damit verbunden sind. Darum ist der Begriff der unterlassenen Hilfeleistung durch die Bundesregierung leider zutreffend. Daran ändern auch die jetzt in Aussicht gestellten Mars-Lieferungen nichts, die Versäumnisse der letzten Monate kann das nicht ungeschehen machen.

Warum der Ringtausch nach Griechenland?

Deutschland startet den nächsten sogenannten Ringtausch. Marder-Schützenpanzer der Bundeswehr gehen nach Griechenland. Dafür bekommt die Ukraine ehemalige Sowjet-Panzer aus Athen geliefert.

Nun soll es sich bei den Mardern jedoch um jene Handeln, für die der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall und die Ukraine bereits im März eine Absichtserklärung vereinbart haben. Rheinmetall hat bereits beim Bundessicherheitsrat einen Exportantrag gestellt hat. Will man die Schützenpanzer aus Deutschland rausbringen, damit man sie nicht an die Ukraine liefern muss?

Wenn es eben jene Marder sein sollten, die wir nach Griechenland einbringen, dann ist es ein weiterer Beleg dafür, dass die Marder deshalb nicht an die Ukraine geliefert werden, weil die Bundesregierung das nicht will. Die sind ja offensichtlich da und sie könnten auch direkt geliefert werden. Sie sind direkt gebraucht in der Ukraine.

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Ein Schützenpanzer "Marder".

Dass sie stattdessen an Griechenland geliefert werden, ist vollkommen unverständlich. Und es zeigt, dass die Bundesregierung ganz bewusst nicht will, dass diese Waffensysteme von der Ukraine eingesetzt werden. Das ist aus meiner Sicht eine ganz bewusste Entscheidung. Den Grund dafür kann man nur vermuten, es wird ja nicht offen kommuniziert.

Und wie lautet ihre Einschätzung?

Meine Vermutung ist, dass es daran liegt, dass die Bundesregierung die Beziehungen zu Putin und Russland schonen will, anstatt alles einzusetzen, was vertretbar ist, um der Ukraine zu helfen.

Was sollte die Bundesregierung dazu motivieren?

Kalkulation. Wir wollen die sein, die immer – egal, was passiert ist – mit Russland verhandeln und sprechen können. Und darum tun wir nichts, was von russischer Seite aus diese Gesprächsfähigkeit beschädigen oder zerstören würde.

Scholz soll mit Putin telefonieren

Dazu passt die Aussage vom polnischen Vizeaußenminister, Scholz würde wohl doch deutlich öfter mit Putin telefonieren, als öffentlich bekannt ist. Er bezeichnet das als sinnlos, schlimmer noch als eine Würdigung der Rolle Putins. Wie sehen Sie das?

Ich weiß nicht, wie oft da telefoniert wird. Aber das, was öffentlich wird, reicht ja schon. Ich halte das auch für sinnlos bis schädlich, weil es suggeriert, dass Putin in irgendeiner Form an Verhandlungen und Lösungen interessiert wäre.

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Die Tatsache, dass da teilweise über 80 Minuten gesprochen wird, erweckt den Anschein, es gäbe eine Basis für Verhandlungen oder für Fortschritte durch Gespräche. Das ist entweder eine Selbsttäuschung des Kanzlers oder mindestens ein grober Irrtum über die Absichten Putins.

Am 15. Juni trifft sich die Nato in Ramstein. Welches Signal muss da kommen?

Das entscheidende Signal, das auch von diesem Treffen kommen muss, ist die Entschlossenheit, die Ukraine anhaltend und solange es nötig ist, militärisch zu unterstützen. Wir werden die Ukraine nicht aufgeben.

Befürchten Sie denn im Westen einen Abnutzungseffekt in der Bevölkerung und Politik?

Einerseits neigen Menschen dazu, sich auch an Schlimmes zu gewöhnen. Und auch die Fähigkeit, sich über längere Zeiträume fortwährend mit so einer Herausforderung zu beschäftigen, ist für manche ein nachvollziehbares Problem.

Andererseits ist Putins Krieg eine tiefgreifende Zäsur. Es ist so existenziell, ob der Krieg wieder Einzug hält als Mittel der Politik in Europa oder ob er verbannt wird. Diese Frage von Krieg und Frieden wird uns, solange sie nicht im Sinne des Friedens geklärt ist, nicht mehr loslassen. Wir müssen ausdauernd bleiben bei der Unterstützung des Freiheitskampfs der Ukraine, auch im Namen unserer eigenen Zukunft. (rnd)

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