Wo bleibt der Stoff?Pleiten, Pech und Pannen bei der deutschen Impstrategie

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  • Fehlende Präparate, glücklose Bestellstrategie, Probleme bei der Terminvergabe: Die Impfkampagne in Deutschland läuft nur schleppend an. Was sind verständliche Anlaufschwierigkeiten, was politische Fehler? Ein Überblick.

Eigentlich sollte im neuen Jahr alles besser werden. Vom sprichwörtlichen Licht am Ende des Tunnels war viel die Rede, und davon, dass der Impfstoff die Wende in der schon so viele Monate andauernden Corona-Krise bringen soll. Doch seit der erste Wirkstoff in Europa zugelassen ist, steigt nun zunächst die Unzufriedenheit.

Die Bestellung durch die EU verlief nicht ideal, die Verteilung stockt, und es wächst der Druck auf die Verantwortlichen. Sind das nun erwartbare Probleme, angesichts der womöglich größten Logistikaktion seit Gründung der Bundesrepublik? Oder verschläft das Land den Impfstart? Eine Einordnung in Fragen und Antworten:

Liegen wir beim Impfen im Plan, wie der Gesundheitsminister behauptet? Bund und Länder haben keine Pläne darüber veröffentlicht, wie viele Menschen pro Tag geimpft werden sollen. Bekannt ist aber, dass bisher 1,3 Millionen Dosen an die Länder ausgeliefert wurden. Bis Montagmittag wurden aber nur 265.000 Menschen geimpft. Allein daran lässt sich ablesen, dass der Impfstart in Deutschland nicht optimal war.

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Warum hat es nicht richtig geklappt? Die Bundesländer konzentrieren sich zunächst darauf, die Bewohner von Pflege- und Altenheimen zu impfen. Das entspricht auch der Reihenfolge, die von der Bundesregierung festgelegt wurde. Allerdings kostet das Impfen in den Heimen mit mobilen Teams offenbar mehr Zeit als erwartet. Problematisch sei unter anderem, dass bei nicht einwilligungsfähigen Bewohnern (zum Beispiel Demenzkranken) häufig die Genehmigung der Betreuer fehle, hieß es in einem Bundesland. In einem anderen Land wurde darauf verwiesen, dass die Heime selbstständig ihre „Impfbereitschaft“ melden müssten, bevor ein Impfteam komme.

Kein richtiges Termin-Management

Für rüstige über 80-Jährige, die selbst in ein Impfzentrum gehen könnten, funktioniert offensichtlich das Terminmanagement bislang nicht richtig. Warum ist die bundesweite Hotline 116117 so schwer zu erreichen? Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wird die Hotline erfahrungsgemäß um Weihnachten und den Jahreswechsel ohnehin stark genutzt. In den vergangenen Tagen seien viele Bürger mit Fragen zur Impfterminvergabe hinzugekommen. Aber: Über die 116117, die jeweils auf Landesebene organisiert ist, werden die Anrufer derzeit nur in zehn Bundesländern an die Terminvergabe weitergeleitet, das sind Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg, Sachsen-Anhalt, Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland. Die anderen Länder haben eigene Nummern geschaltet.

Wer trägt die Verantwortung dafür, dass es bislang nur langsam mit dem Impfen vorangeht? Zurzeit gibt es ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern, wer schuld ist an dem schleppenden Start. Vor dem Hintergrund, dass die Impfungen in den Bundesländern sehr unterschiedlich angelaufen sind, kann man nicht nur die Lieferpraxis des Bundes verantwortlich machen. Es gibt schlicht Bundesländer, die ihre Impflogistik schneller und effizienter als andere hochgefahren haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Bundesgesundheitsministerium bei Weitem nicht so viel liefern kann, wie die Länder impfen können. Ende vergangener Woche beklagten die Länder Lieferausfälle und zu späte Nachlieferungen. Der Gesundheitsminister wiederum sprach von föderalem Chaos und zog den nächsten Liefertermin vom 11. auf den 8. Januar vor.

Israel impft zügig

Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus? Auch in anderen EU-Ländern läuft es schleppend. In Italien wurden nach den Angaben der Oxford-Webseite Our World in Data bislang rund 114.000 Menschen geimpft, obwohl etwa 470.000 Impfstoffdosen von Biontech zur Verfügung stehen. Die Lombardei, die von der Pandemie besonders stark betroffen ist, lag am Sonntag bei der Impfquote deutlich unter dem Gesamtdurchschnitt. In Frankreich wurden bislang erst 516 Menschen geimpft. Die Niederlande haben mit den Impfungen noch gar nicht begonnen. Besonders zügig impft hingegen Israel. Dort wurden laut der Oxford-Webseite mehr als eine Million Dosen gespritzt – das ist im Pro-Kopf-Durchschnitt Spitze.

Moderna kurz vor der Zulassung

Ist bald mit mehr Zulassungen und mehr Nachschub zu rechnen? Spätestens am Mittwoch wird mit der Zulassung des Impfstoffes des US-Pharmakonzerns Moderna in Europa gerechnet. Er ist bereits seit dem 18. Dezember per Notfallzulassung in den USA auf dem Markt. Wie bei Biontech handelt es sich um einen modernen MRNA-Impfstoff. Das Moderna-Vakzin soll mit 94 Prozent auch eine ähnlich hohe Wirksamkeit besitzen. Von dem Impfstoff hat sich Deutschland 50 Millionen Dosen gesichert. Der nächste Kandidat für eine europäische Zulassung ist der Covid-Impfstoff von Astra Zeneca und der Universität Oxford. Sie wird noch im Januar erwartet.

Das Vakzin, das Ende Dezember bereits in Großbritannien eine Zulassung bekommen hat, soll einen 70-prozentigen Schutz bieten. Deutschland hat sich 56 Millionen Dosen gesichert.

Noch im Frühjahr wird auch die Zulassung des MRND-Impfstoffs des Tübinger Herstellers Curevac erwartet. Davon soll Deutschland insgesamt 62 Millionen Dosen bekommen. Vom Vektorimpfstoff des Pharmakonzerns Johnson & Johnson, für den ebenfalls eine Zulassung im Frühjahr erwartet wird, hat sich Deutschland weitere 37 Millionen Dosen gesichert. Die EU bekommt zudem 300 Millionen Dosen des Vakzins der Konzerne Sanofi und Glaxo Smith Kline. Deutschland stehen aus diesem Vertrag 50 Millionen Dosen zu. Nur ist unklar, wann der Impfstoff kommt. Unterm Strich kann Deutschland nun mit mehr als 300 Millionen Impfdosen rechnen. Bis Ende Januar sollen davon vier Millionen Dosen zur Verfügung stehen, womit bei einer zweimaligen Gabe zwei Millionen Menschen geimpft werden können.

Brief sorgt für Wirbel

Ist es sinnvoll, dass Deutschland bei der Impfstoffbestellung streng europäisch agiert hat? Grundsätzlich ist das gemeinsame Vorgehen der EU nachvollziehbar, um Preistreiberei der Hersteller und ein Auseinanderfallen der Nationalstaaten zu verhindern. Allerdings hat die Bundesregierung die Chance versäumt, zusätzlich zu den EU-Bestellungen mit Biontech weitere Verträge abzuschließen. Für Wirbel sorgte am Montag ein Brief des Gesundheitsministers, den er im Juni 2020 gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Frankreich, Italien und den Niederlanden verfasst hat, wie die „Bild“-Zeitung berichtet.

Darin rücken die vier Länder von ihrer eigenen Impfallianz ab und bieten eine europäische Lösung an. Der Zeitung zufolge sollen Kanzlerin Angela Merkel und Kommissionschefin Ursula von der Leyen darauf gedrungen haben. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Brief gemeinsam mit der Botschaft, die Kanzlerin habe darauf gedrungen, ausgerechnet in dem Moment in der Öffentlichkeit auftaucht, in dem Spahn im Kreuzfeuer der Kritik steht, dass er nicht zusätzlich Impfstoff bei Biontech bestellt hat.

„Europäisches Vorgehen im deutschen Interesse“

Wie reagiert die Regierung auf die Kritik? Die Bundesregierung hält daran fest, dass der gemeinsame europäische Weg bei der Impfstoffverteilung der richtige gewesen sei. „Das europäische Vorgehen ist im deutschen Interesse“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert gestern. Auch Spahn verteidigte die Verteilung. Es sei „richtig, diesen europäischen Weg gegangen zu sein und zu gehen“, sagte er im ZDF-„heute journal“. Man habe von Anfang an auf mehrere Hersteller gesetzt, da nicht klar gewesen sei, wer als Erstes ans Ziel komme. „Dass wir jetzt am Anfang so wenig haben, dass wir priorisieren müssen, hat nichts zu tun mit der Bestellmenge, also wie viel wir bestellt haben, sondern das hat etwas damit zu tun, dass jetzt am Anfang die Produktionskapazität knapp ist.“

Ist es realistisch, dass bis zum Sommer alle, die es wünschen, die Impfung erhalten haben? Problematisch sind die Produktions- und nicht die Impfkapazitäten. Vorbereitet – und teilweise schon in Betrieb – sind bundesweit rund 450 Impfzentren, an die jeweils die mobilen Impfteams angebunden sind. Hochgerechnet wäre es möglich, pro Tag bundesweit rund 400.000 Menschen zu impfen. Die Risikogruppen – zu denen rund 38 von insgesamt 83 Millionen Menschen gehören – könnten so in etwa vier Monaten durchgeimpft werden. Nach Einschätzung von Ärzteverbänden reichen weitere vier Monate, um die übrige Bevölkerung in den Arztpraxen zu immunisieren. Völlig offen ist, wie schnell die bestellten Impfdosen geliefert werden können. Für das erste Quartal sind lediglich elf Millionen Dosen avisiert.

Damit können bis zu 5,5 Millionen Menschen geimpft werden. Es besteht aber Hoffnung, dass die Produktion hochgefahren werden kann. Spahn gab sich gestern dennoch überraschend optimistisch. Dem ZDF sagte er am Abend: „Das Ziel ist tatsächlich, dass wir bis zum Sommer jedem ein Impfangebot in Deutschland machen können.“ Ob das klappe, hänge auch von der Zulassung weiterer Impfstoffe ab.

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