Markus Merk im Interview„Schiedsrichter darf nicht Erfüllungsgehilfe des VAR sein“

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Markus Merk (60), geboren in Kaiserslautern, war von 1988 bis 2008 Bundesliga-Schiedsrichter und leitete 338 Erstliga-Partien. Merk war dreimal „Weltschiedsrichter des Jahres“.

Köln – Herr Merk, mit Blick auf die sich häufenden Fehlentscheidungen der vergangenen Spieltage: Hat die Bundesliga ein VAR-Problem?  Merk: Die Technik ist nur so gut, wie der Mensch, der die Technik bedient. Hier haben wir ein Problem. Natürlich muss man fragen: Wie kann es dazu kommen, dass eine 100-prozentig falsche Entscheidung trotz der VAR-Rückversicherung bestehen bleibt? Das ist der Super-Gau. Und es sollten ja ursprünglich nur die klaren Fehlentscheidungen sein, die korrigiert werden. Von dieser These sind wir längst abgerückt. Es werden viel zu viele Szenen überprüft. Aber wir sprechen viel zu viel, schon von Anfang an, über den Video-Assistenten. Er ist ein Assistent, darum heißt er so.

Was ist für Sie das größere Thema?

Wir sprechen zu wenig über den eigentlichen Entscheider. Und das ist der Haupt-Schiedsrichter. Er muss die Verantwortung tragen. Natürlich ist es menschlich und verständlich sich zurückzuhalten, wenn man einen Backup hat. Doch genau daher kommen die Probleme. Das war schon früher so. Die Probleme kommen aus den Schnittstellen zwischen Schiedsrichter und Assistenten, einer Grauzone. Da ist die Entscheidungsgewalt nicht klar.

Die Schiedsrichter sind sich zu sicher, dass der Video-Assistent im Falle eines Fehlers ohnehin eingreift.

Genau. Jeder Entscheidung, die vom Video-Assistenten überprüft wird, geht primär eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters auf dem Feld voraus. Deshalb würde ich mich als Schiedsrichter immer wahnsinnig über eine Korrektur ärgern – und mich nicht auf diese Absicherung verlassen.

Hat die Bundesliga ein Schiedsrichter-Problem?

Das Berufsbild und die Ausbildung haben sich durch die Technik verändert, das hat aus meiner Sicht nichts mit der Qualität zu tun. Die Schiris sind es einfach nicht mehr von Anfang an gewohnt, die Entscheidungsträger auf dem Platz zu sein. Es gibt ja eine Rückversicherung – da ist es menschlich, dass ich mich darauf verlasse. Doch es ist der falsche Weg! Es konterkariert die Kernkompetenz des Schiedsrichters: Situativ und vollverantwortlich zu entscheiden.

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Was müssen DFB und DFL unternehmen, um diesem Problem entgegenzuwirken?

Man muss die Schiedsrichter dahingehend trainieren, dass sie ihrer primären Aufgabe wieder besser nachkommen: Die Hauptverantwortung auf dem Feld zu tragen. Er kann nicht nur der Erfüllungsgehilfe des Video-Assistenten sein. Da darf jeder Fußballfan auf dem Spielfeld richtige Entscheidungen erwarten. Der Grundgedanke des VAR war nicht, dass jede Szene im Strafraum nochmal überprüft wird. Es ging eigentlich darum, die klaren Fehler zu korrigieren. Es sollte eine Hilfe für den Schiedsrichter sein. Der VAR sollte dem Schiedsrichter aber nicht den Willen und die Möglichkeit nehmen, vollverantwortlich auf dem Rasen zu entscheiden. Mit der Technik an sich habe ich aber noch ein anderes Problem.

Was meinen Sie?

Früher war ein Kern unserer Aufgabe und Thema von vielen Schiedsrichter-Diskussionen: Was können wir tun, um den Spielfluss aufrecht zu erhalten? Was können wir gegen Zeitspiel und gegen viele Unterbrechungen unternehmen? Wir wollten weniger reglementieren. Und jetzt haben wir ständig irgendwelche Pausen. Zum Beispiel nach einer Flanke, die durch den Strafraum und dann ins Aus geht. Dann gibt es einen ganz kurzen Break, weil dann noch nochmal geguckt wird, ob nicht irgendetwas im Strafraum war. Aber warum? Das geht doch völlig gegen Sinn und Geist der Aufgabe, den Spielfluss aufrecht zu erhalten.

Wie bewerten Sie die Qualität der deutschen Schiedsrichter?

Darüber muss man natürlich sprechen. Zuletzt habe ich einen Schiedsrichter gehört, der nach einer klaren Fehlentscheidung sagte: „Da hätte ich mir aber die Unterstützung des Videoassistenten erwartet.“ Aber so geht es nicht! Wenn es eine klare Situation ist, dann ist es seine Aufgabe, die klar zu entscheiden. Sie müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein. Sie genießen ein absolutes Privileg. Wenn ein Schiedsrichter heute in der Bundesliga aktiv ist, dann ist er fast unabsteigbar. In den letzten 20 Jahren gab es vielleicht einen oder zwei Schiedsrichter, die die Liga aus Leistungsgründen verlassen mussten. Ich glaube, dass das den Leistungsgedanken nicht fördert, wenn es erstmal fest im Kopf ist. Nach dem Motto: Mir kann eh nichts passieren, ich habe quasi einen Rentenvertrag. Und wenn doch mal etwas falsch läuft, liegt die Schuld beim Video-Assistenten. Wir müssen schauen, dass wir das Leistungsprinzip wieder in die Köpfe der aktiven Schiedsrichter bringen.

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Manuel Gräfe

Wie sehen Sie die Kritik von Manuel Gräfe, der dem DFB-Schiedsrichterwesen mangelnde Kompetenz vorgeworfen hat?

Sein Ansatz beruht schon seit Jahren auf einer persönlichen Ebene. Er nutzt jede Chance, um eine Sachebene vorzuschieben. Gleichzeitig wirft er wieder Namen von angeblich Hauptverantwortlichen ein. Sicher muss man ständig an Verbesserungen und der Optimierung arbeiten, aber immer auf der Sachebene. Es geht nicht, indem man sagt, dass in den letzten zwölf Jahren alles falsch gelaufen ist. Und niemand sollte für sich in Anspruch nehmen zu sagen, dass wenn man ihn mehr berücksichtigt hätte, wäre die Fußball-Welt eine bessere. Und das ist ja im Grunde seine Argumentation.

Lothar Matthäus hat vorgeschlagen, dem VAR Ex-Profis zur Unterstützung zur Seite zu stellen. Sie könnten viele strittige Szenen durch ihre Spielerfahrung besser bewerten.

Jede zielorientierte Unterstützung und Expertise macht Sinn. Die Schiedsrichter müssen hierfür offen sein. Allerdings wurde so etwas Ähnliches bereits probiert, aber man hat oft nur Ex-Profis gehabt, die sonst nichts anderes im Fußball gefunden haben. Oder welche, die schnell wieder abgesprungen sind. Ich halte nichts davon, noch jemanden mit in diesen Raum zu setzen, der ist schon voll genug. Es würde noch eine Entscheidungsebene geben und alles wäre noch komplizierter. Meiner Meinung nach wäre damit niemandem geholfen.

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