DebattenkulturWenn die Politik von Ängsten spricht

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Illustration: Plenarsitzung

Anteilig an allen Aussagen haben die Abgeordneten 2019 am häufigsten über Angst gesprochen – in rund 3 Prozent der Fälle.

Nehmen Politiker und Politikerinnen die Sorgen der Menschen ernst? Oder verfolgen sie eine populistische Strategie? In den Debatten im Bundestag geht es zunehmend um Ängste.

Bevor Sahra Wagenknecht loslegt, nimmt sie einen Schluck Wasser. Die Linken-Politikerin faltet ihre Notizen auseinander, lehnt sich auf das Rednerpult des Plenarsaals – und hebt die Stimme: „Millionen Menschen haben Angst vor der Zukunft, vor explodierenden Lebenshaltungskosten, vor Horrorabrechnungen und immer mehr auch um ihren Arbeitsplatz.“

Die Rede, die Wagenknecht im September 2022 im Bundestag hält, ist mustergültig: Insofern, dass die Politikerin die vermeintlichen oder tatsächlichen Ängste der Menschen anspricht. Und insofern, dass im Bundestag in jüngster Zeit das Stichwort Angst so häufig wie nie zuvor gefallen ist. Die Analyse aller Sitzungsprotokolle des Parlaments von 1949 bis Mai 2021 zeigt einen deutlichen Anstieg.

Für die Auswertung hat das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) alle Wortmeldungen im Bundestag berücksichtigt, in denen das Wort Angst oder daraus abgeleitete und zusammengesetzte Wörter vorkommen. Anteilig an allen Aussagen haben die Abgeordneten 2019 am häufigsten über Angst gesprochen – in rund 3 Prozent der Fälle.

Bis zu diesem Angsthoch hat der Bundestag mehrere Phasen durchlaufen: In den ersten Jahren des Parlaments weist der Trend nach unten – mit einer Ausnahme. 1958 gab es so viele Reden mit dem Begriff Angst wie für Jahrzehnte nicht mehr. Es ist das Jahr, in dem der Bundestag über die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik diskutiert.

Nachdem die Entscheidung gefallen ist, beginnt eine rund 20-jährige Phase, in der im Bundestag kaum über Angst gesprochen wird – trotz Mauerbau, Ölkrise und anderen einschneidenden Ereignissen. Dietmar Till, Professor für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen, führt das auf die damals herrschende politische Kultur zurück: „Nach dem Ende des Dritten Reiches und der stark emotionalisierenden Propaganda von Adolf Hitler und Joseph Goebbels gab es Vorbehalte gegen Emotionen und Pathos im Parlament.“

Ab den 1980er-Jahren spricht der Bundestag wieder häufiger über Angst. Das hängt auch mit einer neuen Partei zusammen, die mit der Bundestagswahl 1983 auf die Bühne des Parlaments tritt: die Grünen. Bis nach der Jahrtausendwende sind es ihre Politikerinnen und Politiker, die am häufigsten über Angst sprechen. Till verweist auf Umweltthemen wie das Waldsterben, die stark emotionalisiert hätten.

Ab 2005 dreht sich das Bild: Die Grünen sind nun die Partei, die am seltensten von Angst spricht. „Sie haben ihre Kommunikation im Laufe der Zeit professionalisiert. Die Grünen wollen trotz der immer drängender werdenden Klimakrise nicht mehr verunsichern. Stattdessen will die Partei ihre Lösungen in den Mittelpunkt rücken“, so Till.

Den jüngsten Sprung der Angstreden im Bundestag nach oben gibt es ab 2015. Mit der sogenannten Flüchtlingskrise wird erneut ein Thema emotional diskutiert, gleiches gilt für die Corona-Pandemie ab 2020. Und erneut ist es mit der AfD eine junge Partei, die am häufigsten über Angst spricht. Bei beiden Themen versucht sie sich scharf von allen anderen abzugrenzen.

„Die AfD ist eine Angstpartei. Es gehört zur populistischen Strategie, mit starken negativen Emotionen alles Rationale abzuschalten, wenn man keine überzeugenden Argumente hat“, erläutert Till. „Emotionen wie Angst beeinflussen, wie überzeugend die Menschen eine Rede finden.“ Zugleich verunsichere das Angstgefühl die Menschen. „Die populistischen Rednerinnen und Redner bieten aus diesem Gefühl einen Ausweg mit vereinfachenden Argumenten an.“

Dass die AfD eine besondere Vorliebe für das Thema Angst hat, zeigt sich auch beim Blick auf einzelne Politikerinnen und Politiker. Fraktions- und Parteichef Tino Chrupalla kommt in jeder fünften Rede darauf zu sprechen.

Warum? Das will der AfD-Politiker auf Anfrage nicht beantworten. Ein genauerer Blick auf seine Reden offenbart aber seine Strategie: Wenn Chrupalla das Wort verwendet, macht er häufig anderen Parteien den Vorwurf, sie würden den Menschen mit ihrer Politik Angst machen. So greift er seine Gegner an, ohne konkrete Sorgen benennen zu müssen.

Sahra Wagenknecht hingegen benennt klar, welche Ängste sie meint. „Ich möchte den Menschen verdeutlichen, dass die Unsicherheit, die sie erleben, Folge von politischen Entscheidungen ist. Das halte ich für eine wichtige Aufgabe in einer Demokratie“, sagt sie. Eine Gefahr darin, stark zu emotionalisieren, sieht Wagenknecht nicht: „Ich halte es für gefährlicher, wenn Ängste totgeschwiegen werden, wie es aktuell der Fall ist.“ Diese Herangehensweise macht sich bemerkbar: In rund 22 Prozent ihrer Reden spricht sie über das Thema.

Fast genauso oft – in knapp 18 Prozent der Reden – verwendet Michael Roth den Begriff. Der SPD-Außenpolitiker zeigt sich überrascht davon. Er erläutert auf Anfrage: „Ich will in meinen Reden keine Ängste schüren, sondern den Menschen mit überzeugenden Argumenten ihre Ängste nehmen. Aber dafür muss ich ja auch das klar benennen, was den Menschen Angst macht.“ Roth sagt aber auch, dass das Reden über die Sorgen der Menschen – vor allem wenn es auf Fehlinformationen beruht – negative Effekte haben kann: „Wenn diese Ängste einen immer größeren Raum in unseren politischen Debatten einnehmen, dann bestärkt es das Angstgefühl der Bürgerinnen und Bürger nur noch.“

Anteilig haben die Abgeordneten in den vergangenen Jahrzehnten besonders häufig beim Thema Aids über Ängste gesprochen. Weit oben im Ranking der Themen stehen auch andere Themen, die potenziell direkt den eigenen Körper betreffen: Abtreibung, Sterbehilfe und Corona. Sie haben ebenso zu unterschiedlichen Zeiten Konjunktur wie die Themen Atombombe und Atomenergie.

Anders verhält es sich bei wirtschaftlichen Themen: Die Angst vor Arbeitslosigkeit, Finanzkrisen und Staatsverschuldung kommt über die Jahrzehnte hinweg immer wieder auf. Weitere Dauerbrenner sind die Themen Bildung und Migration. (RND)

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