Leben in SpitzbergenDrei Monate in tiefster Dunkelheit

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Polarnacht auf Spitzbergen: Vom 14. November bis 29. Januar verschwindet die Sonne komplett hinterm Horizont.

Polarnacht auf Spitzbergen: Vom 14. November bis 29. Januar verschwindet die Sonne komplett hinterm Horizont.

Kaum ist es dunkel geworden über den zerklüfteten Bergen der Inselgruppe im Nordpolarmeer, kommen die Musiker nach Spitzbergen. Vier Tage lang ist dann Bluesfestival in Longyearbyen, Europas entlegenstem Außenposten in der Arktis. „Dark Season Blues“, so der Titel der nördlichsten Bluesfete der Welt, markiert das Ende des Sonnenscheins – und den Beginn einer reichlich lichtarmen Zeit.

Passender als mit Bluesmusik kann man die kaum einläuten. Schon im Oktober wirft die Sonne ihre letzten Strahlen des Jahres auf diese bizarre Eislandschaft aus Fjorden und Gletschern am 78. Breitengrad. Für knapp drei Monate herrscht an der kalten Küste Norwegens nun den ganzen Tag dunkle Nacht. Ziehen auch noch Nebelschwaden und Schneefall auf, wie das auf der Inselgruppe am Rand des Golfstroms häufiger vorkommt, helfen einzig und allein künstliche Lichtquellen, um auf dem wegelosen Terrain nicht vollends die Orientierung im knirschenden Schnee zu verlieren.

An klaren Wintertagen jedoch, mit bester Hochdruckwetterlage unter Vollmond und Sternenhimmel, sind die Lichter der Bergbausiedlung Longyearbyen nur ein bleicher Abglanz von dem, was die Natur bieten kann. Dann nämlich erlebt man womöglich jenes wunderbare Schauspiel, das die Polarnacht so einzigartig macht: Den Moment, wenn ein schillerndes Nordlicht minutenlang tanzend am Firmament steht. Auch wenn es sich rein wissenschaftlich um elektrisch geladene Teilchen handelt, die vom Sonnenwind angetrieben in den Polargebieten auf die Atmosphäre der Erde treffen: Der Eindruck fluoreszierender Sauerstoffatome kann überwältigend sein – und versetzt selbst Einheimische immer wieder in andächtiges Staunen.

Während uns hierzulande am 21. Dezember also der kürzeste Tag des Jahres bis zu 17 Stunden Finsternis beschert, herrscht im Polarkreis längst Dauernacht. Die dunkle Jahreszeit sei eine Herausforderung, räumen die Bewohner der Polarsiedlung Longyearbyen ein. Aber auf keinen Fall eine unüberwindbare. „Es ist, als müsste man ständig mitten in der Nacht aufstehen, obwohl es doch längst Morgen ist. Um das zu überstehen, braucht man einen Wecker – und gute Freunde“, lacht Joel Franzén, der Wein-Sommelier aus Schweden, der für einen Sommerjob auf die Insel kam und nun schon den zweiten Winter dort verbringt.

„Die Uhren gehen einfach ein bisschen langsamer“, weiß Stine Eidissen Bya, die Tourismus-Managerin vom lokalen Touren-Anbieter Spitsbergen Travel. „Wir Leute hier rücken in der dunklen Zeit ein bisschen enger zusammen. Man trifft sich zu Hause oder im Pub, trinkt etwas, redet miteinander, spielt Quiz.“

Unterhaltung muss sein, gut 1000 Kilometer vom Nordpol entfernt, aber so fernab der nächsten größeren Stadt: Zum Flughafen Longyearbyen gibt es regelmäßige Flugverbindungen aus der norwegischen Hauptstadt Oslo und aus Tromsø, der größten Stadt im Norden des Landes – gut drei Stunden Flugzeit ab Oslo, aus Tromsø knapp anderthalb. Doch die Startbahn verschwindet schon mal unter einer kompakten Eisschicht aus festgefrorenem Schneeregen, der auf den Permafrostboden des Nordmeer-Airports trifft und damit den Flugverkehr lahmlegt. An solchen Tagen kommt garantiert kein frisches Gemüse in die Kühlregale des Supermarktes. Auch der Klavierkünstler, der am Abend im Kulturhaus gastieren sollte, fällt aus. Selbst „Svalbardposten“, die Wochenzeitung für die 2100 Einwohner Longyearbyens, kann dann erst zwei Tage verspätet aus einer Druckerei auf dem Festland ausgeliefert werden.

Das bestbesuchte Pub in solch langen Polarnächten befindet sich in dem Gebäude der ehemaligen Umkleidehalle, wo einst die Kumpel der lokalen Mine ihre Kleider für die Arbeit unter Tage aufbewahrten, dem „Lompensentret“. An der Wand die Fotoporträts von Kumpeln mit rußschwarzen Gesichtern, hinter der Theke eine imposante Spirituosensammlung von mehr als tausend Sorten Hochprozentigem. Die Wirtin schenkt großzügig ein. Hier treffen sich Gäste aus allen Teilen der Welt: Studenten, Polarforscher und Touristen, auch die Bergleute der letzten verbliebenen Kohlemine.

Wer nach dem Kneipenabend hinaus muss in die Polarkälte, wird dort rasch wieder nüchtern. Nun liegen Berg und Fjord unterm silbern schimmernden Sternenhimmel. Ein Zustand vollkommener Stille, der Rest bleibt Finsternis. Besser, das Gewehr ist geschultert. Erst wenige Wochen ist es her, da verirrte sich einer der 3500 Eisbären, die den Archipel durchstreifen, ausgerechnet vor den Eingang der zentralen Hotelherberge. Bis die Injektion aus einem Betäubungsgewehr das Raubtier außer Gefecht setzte, herrschte absolute Ausgangssperre.

Wie im Winterschlaf liegen jetzt Souvenirshops, Sportgeschäfte und Cafés an der Fußgängerzone im Ort. Kaum zu glauben, dass in der hellen Jahreszeit der Touristenstrom hierher kaum abreißt. Kreuzfahrtschiffe spucken dann immer neue Gäste aus, die zu Tagesausflügen auf die Insel übersetzen – 40000 waren es im Vorjahr. Erst im Februar, dem vielleicht schönsten Monat des Jahres, wird die Nacht der Sonne weichen. Drei Monate lang hat Longyearbyen bis dahin in Dunkelheit gelegen. Doch endlich setzt die Dämmerung ein. Von Osten her erhellt ein blasser Lichtschein den Himmel und lässt die Silhouette der Bergkuppen aus der Nachtschwärze hervortreten. Schnee changiert in wechselndem Farbspiel – mal in zartem Violett, dann in leuchtendem Rosa. Das Naturschauspiel kündigt das Ende der Polarnacht an.

Kurz bevor das Tageslicht zurückkehrt.

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