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Deutschlandticket„Wir rechnen mit 5,6 Millionen Neueinsteigern“ – Stresstest in den Ballungsgebieten

Lesezeit 6 Minuten
27.08.2022, Köln: Reisende steigen am letzten 9-Euro-Ticket-Wochenende im Hauptbahnhof in den RE 5 nach Koblenz. Foto: Henning Kaiser/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Voll, voller, Köln: Reisende steigen am letzten 9-Euro-Ticket-Wochenende im Hauptbahnhof in den RE 5 nach Koblenz.

Oliver Wolff vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen über die KVB-Infrastruktur, Gründe für die gelungene Verkehrswende in Wien und die zukünftige Bedeutung von Schnellbussen. 

Das Deutschlandticket könnte nach seiner Einführung im Mai zu einem „Stresstest“ für den Nahverkehr in den Ballungsgebieten werden, sagt Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Der Ausbau der Infrastruktur muss seiner Einschätzung nach deutlich beschleunigt werden. Überraschend ist zudem Wolffs These: In den nächsten zehn bis 15 Jahren werde der Schnellbus eine wichtige Rolle spielen.

Herr Wolff, die Kölner Verkehrs-Betriebe dünnen aus Personalmangel den Fahrplan aus. Über die Schwächen bei der Infrastruktur müssen wir gar nicht reden. Ab Mai kommt das Deutschlandticket, und damit fahren vermutlich mehr Menschen mit Bussen und Bahnen. Sieht so die Verkehrswende aus?

Oliver Wolff: Nein. Die Branche fordert schon seit Jahren, dass mehr in den ÖPNV investiert werden muss, damit er ausgebaut und stabil werden kann. Das Netz ist bundesweit an vielen Stellen marode. Sowohl bei der Bahn als auch bei den städtischen Verkehrsbetrieben. Das ist keine neue Erkenntnis. Über Jahrzehnte ist die Finanzierung viel zu gering gewesen. Das gilt auch in den Großstädten und in Ballungsräumen.

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Ließen sich die Klimaziele mit Jammern erreichen, die Verkehrsunternehmen lägen an der Spitze der Bewegung.

Das mag so wirken, aber die Lage ist wirklich kompliziert. Nehmen wir Köln als Beispiel. Der Hauptbahnhof ist zu klein, die S-Bahn zu voll, die Hohenzollernbrücke zu schmal, die KVB-Infrastruktur muss dringend ausgebaut werden. Die Ost-West-Achse ist leider ein Dauerthema. Und zwar als U-Bahn. Alles andere macht keinen Sinn. Da muss man nur einmal nach Düsseldorf und die Werhahn-Linie mit ihren attraktiven U-Bahn-Stationen blicken. Auch wenn die Bauzeit bitter war, hat sich das gelohnt und dafür braucht es klare politische Entscheidungen.

Die Politiker verbinden das Deutschlandticket mit der Verkehrswende und hoffen, dass sich mit 49 Euro im Monat alle Probleme in Luft auflösen. Welche Probleme werden ab 1. Mai verschwunden sein?

Die Leute schauen immer auf Wien und das 365-Euro-Ticket. Wien hat aber erst das System ausgebaut, in die U-Bahn investiert. Dann kamen dieses günstige Ticket und das Klimaticket für ganz Österreich. Das ist bei uns anders. Die Fahrgastzahlen gingen bis zur Coronakrise im bestehenden ÖPNV-System Jahr für Jahr nach oben. Wir haben in einer ersten Abschätzung errechnen lassen, dass das Deutschlandticket bis zu 5,6 Millionen Neueinsteiger anlocken könnte. Das bedeutet bis zu 40 Prozent mehr Dauerkunden als heute.

Die Stadt Stuttgart hat schon angekündigt, ihren Beschäftigten das Deutschlandticket zu bezahlen. Andere Städte planen Vergleichbares.

In den Ballungsgebieten könnte das für das System tatsächlich zum Stresstest werden. Im Gegensatz zum 9-Euro-Ticket, das von vornherein auf drei Monate angelegt war, wird das Deutschlandticket das Nutzerverhalten dauerhaft verändern. Die hohen Energiepreise als Folge des Ukraine-Kriegs werden zusätzlicher Antrieb sein, um dauerhaft auf den ÖPNV umzusteigen und beispielsweise den Zweitwagen abzuschaffen.

Müssen die Pendler erst mit den Füßen abstimmen, damit die Politik mehr Geld für den ÖPNV in die Hand nimmt?

Bundesverkehrsminister Volker Wissing kann das nur recht sein. Dann hat er gegenüber Christian Lindner, seinem Kollegen im Finanzministerium, endlich Argumente, mehr Geld für den ÖPNV loszueisen. In der Branche ist eins unstrittig: Wenn der ÖPNV innerhalb weniger Jahre die Verkehrswende abliefern soll, braucht es den günstigen Preis, aber vor allem den Ausbau. Und zwar am besten parallel.

Selbst wenn es mehr Geld für den Ausbau gibt: Den S-Bahn-Ring um Köln schließt man nicht in fünf Jahren. Eine Ost-West-U-Bahn wird vor 2040 bestimmt nicht fahren. Was machen wir bis dahin, damit die Umsteiger nach einem Jahr ihr Deutschlandticket nicht in Ecke werfen und sich ein Elektroauto kaufen?

In den nächsten zehn bis 15 Jahren werden emissionsfreie Busse eine wichtige Rolle spielen. Das wird man beim Umbau der Städte berücksichtigen müssen. Der Bus ist schnell verfügbar und der infrastrukturelle Aufwand hält sich in Grenzen. Das kann man leisten, um mehr Angebot zu fahren.

Mit dem Thema Express-Busspur hat Köln auf der Aachener Straße keine besonders guten Erfahrungen gemacht.

Wenn in den Veedeln die Autofahrer eine Spur abgeben müssen, regt sich immer Widerstand. Aber es gibt ja auch in Köln Straßen, wo das gut funktioniert. Die Ringe zum Beispiel. Man wird sich die Stadt genau anschauen müssen. Die Metrobusse in München sind ein stark wachsendes Segment.

Für 2023 ist das Deutschlandticket finanziert. Bund und Länder geben jeweils 1,5 Milliarden Euro. Aber was kommt danach?

Wir haben uns zum Glück damit durchgesetzt, dass die Nachschusspflicht kommt, falls das Geld nicht reicht. Daran hatten die Ministerpräsidenten von NRW und Niedersachsen großen Anteil. Der Bund will ab 2024 aber nur noch seinen Anteil von 1,5 Milliarden zahlen und auf gar keinen Fall mehr nachlegen. Wir werden schon Ende August 2023 wissen, wie hoch der Zuschussbedarf werden könnte. Auf dieser Grundlage wird die Debatte geführt werden müssen. Ich habe immer gesagt: Wenn wir erleben, dass das 49-Euro-Ticket für die Verkehrsunternehmen zu einer finanziellen Katastrophe wird, müssen wir als letzter Ausweg zurück zu den alten Tarifen.

Wenn das 49-Euro-Ticket für die Verkehrsunternehmen zu einer finanziellen Katastrophe wird, müssen wir zurück zu den alten Tarifen
Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen

Wie bitte? Sie wollen das Deutschlandticket zur Not wieder abschaffen?

Nein. Aber Bund und Länder haben für das Ticket eine Einführungsphase von zwei Jahren vereinbart und solange ist es finanziert. Ich habe keine Sorge, dass die Finanzierung auch 2024 gesichert sein wird. Ohne Preiserhöhung. Das ist Teil des Beschlusses. Danach muss man weitersehen.

Zwei Jahre Einführungsphase – das heißt aber doch jetzt bis Ende April 2025.

Ob wir die vier Monate dranhängen oder nicht, macht für die Frage, wie man den ÖPNV finanziert, keinen großen Unterschied. Das ist eine Grundsatzentscheidung, bei der die Verkehrsunternehmen ab sofort nicht mehr allein im Haus sind. Da reden der Bund und die Länder mit. Wenn jetzt Kommunen und Landesverwaltungen entscheiden, ihren Mitarbeitern das Deutschlandticket zu finanzieren, dürfte es politisch sehr schwierig werden, wieder zum alten System mit den alten Tarifen zurückzukehren. Ich befürchte, dass es um die Finanzierung ein Hauen und Stechen geben wird. Das muss dann die Politik entscheiden. Für uns ist klar, dass das Deutschlandticket nicht dauerhaft zu einer Hypothek für die Verkehrsunternehmen führen darf. Das sehen die Kommunen und Kreise natürlich genauso. Weil sie das bezahlen müssten.


Oliver Wolff (58) ist seit Juni 2011 Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), dem Branchenverband des öffentlichen Verkehrs mit 581 Mitgliedsunternehmen, darunter auch die Deutsche Bahn und die Kölner Verkehrs-Betriebe. Wolff war von 2003 bis 2008 Kreisdirektor des Rheinisch-Bergischen Kreises und Geschäftsführer der Rheinischen-Bergischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft und von 2008 bis 2011 Abteilungsleiter im NRW-Verkehrsministerium.

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