Missbrauch im Erzbistum KölnNiemand hatte die Absicht zu vertuschen – von wegen!

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Woelki Heße

Erzbischof Stefan Heße (l.) und Kardinal Rainer Woelki

Köln – Ein Papst muss viel lesen. Nach 900 Seiten Gutachten und einem Bericht zweier Visitatoren über den Umgang der Kölner Bistumsleitung mit Fällen sexuellen Missbrauchs in der Zeit bis 2018 stellte Franziskus im September 2021 zwar organisatorische Mängel in der Verwaltung und „persönliche Verfahrensfehler“ der Verantwortlichen fest. Doch die Rücktrittsgesuche der ehemaligen Generalvikare Dominik Schwaderlapp (heute Weihbischof in Köln) und Stefan Heße (Erzbischof von Hamburg) wies Franziskus zurück. Sie hätten nicht in der Absicht gehandelt, Missbrauch zu vertuschen. Ein äußerst gewagter Befund, besonders für einen Papst mit der theologischen Gabe der Unfehlbarkeit.

Um zum gegenteiligen Ergebnis zu gelangen, hätte zusätzlich die Lektüre einer schmalen Broschüre genügt, die Schwaderlapp Ende März 2010 in einer Auflage von 150.000 Exemplaren in allen Gemeinden verteilen ließ – samt einem Hirtenbrief von Kardinal Joachim Meisner.

„In diesen Wochen müssen wir mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen, dass es auch in kirchlichen Einrichtungen zu schlimmsten Verfehlungen sexuellen Missbrauchs gekommen ist“, so beginnt der Brief, in dem Meisner „nicht verhehlen kann, dass ich über das Versagen von manchen Priestern und kirchlichen Mitarbeitern nicht nur zutiefst erschüttert, sondern auch zornig bin.“ Das 32-Seiten-Heft erschien unter Schwaderlapps Nachfolger Heße 2012 in einer geringfügig aktualisierten Auflage.

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Vorgeblicher Wille zur Transparenz

Unter dem Eindruck der 2010 mit voller Wucht rollenden Skandalwelle sollte die Broschüre Teil einer „Wir haben verstanden“-Offensive sein. Mit vorgeblichem Willen zur Transparenz machten Schwaderlapp und Heße die interessierte Öffentlichkeit glauben, das Erzbistum Köln habe schon deshalb nichts zu verbergen, weil es hier gar kein gravierendes Problem mit Missbrauch gebe.

„Manche Priester“, so betont marginalisierend formuliert Meisner in der Broschüre. Die dann folgende „Dokumentation“ weist auf den Seiten 21 und 22 „im Bereich des Erzbistums“ einen einzigen seit 2008 bekannten Verdachtsfall aus den 1970er Jahren aus. Der mutmaßliche Täter – 1994 verstorben, die Vergehen – verjährt.

In 25 Jahren nur vier Fälle

Für die Zeit zwischen 1977 und 2002 führt die Broschüre „lediglich einen Fall sexuellen Missbrauchs“ auf, der strafrechtlich geahndet worden sei. In drei weiteren Verdachtsfällen habe die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt. Eigens genannt sind dann noch vier Verfahren gegen „in der Kirche tätige Laien“.

Diese Angaben haben in etwa den Wahrheitswert von Meisners „Nichts geahnt, nichts geahnt“-Beteuerung 2015 im „Deutschlandfunk“ – nämlich gar keinen. Als Heße, seit 2006 Personalchef und in dieser Funktion mit Missbrauchsfällen betraut, im Januar dieses Jahres vor dem Kölner Landgericht zum Fall des Priesters und mutmaßlichen Serientäters Hans Ue. als Zeuge aussagte, schilderte er auch die eigene Lage vor zwölf Jahren.

140 Vorgänge zu Missbrauchstätern habe er 2010/11 auf dem Schreibtisch gehabt. Heße ließ das Bild wahrer Aktenberge entstehen. 140 Fälle! Der Richter müsse sich das mal vorstellen! Schwaderlapp und er hätten mit anderen Verantwortlichen eigens einen kleinen Stab gebildet, in dem sie regelmäßig über die ständig neuen Opferberichte beraten hätten.

Fast 160 Anzeigen zwischen 2005 und 2014

Was deren Zahl angeht, gibt das Missbrauchsgutachten des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke vom März 2021 Heße Recht: Von insgesamt 314 erfassten Missbrauchsfällen in der Zeit von 1975 bis 2018 wurde fast die Hälfte (137) erstmals in den Jahren 2010 bis 2014 beim Erzbistum aktenkundig. 21 Fälle zwischen 2005 und 2009 angezeigt, 20 zwischen 2000 und 2004. Neun Fälle waren es in den 1990er Jahren, 19 in den 1980er Jahren.

Das bedeutet aber auch: Als die Broschüre zu „Infos, Daten, Dokumenten und Hintergründen“ 2010 in den Druck ging, wussten die Verantwortlichen von einer Fülle von Verdachtsfällen, erwähnten dies aber mit keinem Wort. Heße wollte sich auf Anfrage zur Entstehung der Broschüre nicht äußern. Er habe Gercke, den päpstlichen Visitatoren und dem Landgericht Köln alles gesagt, was er zu sagen habe. 2020 hatte er in der „Zeit“-Beilage „Christ und Welt“ ein „schweres Versäumnis“ eingeräumt. Die Macher der Broschüre hätten hier „ganz offensichtlich nicht das Wissen abgerufen“.

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Zu Schwaderlapps Sicht der Dinge teilte der scheidende Kommunikationsdirektor Christoph Hardt mit, er könne die Anfrage leider nicht weiterleiten, da seine Abteilung während der Zeit des Weihbischofs als Auslandsseelsorger in Kenia nicht mit ihm in Kontakt stehe. Die Broschüre führte Hardt auf einen „unbedingten, aber auch eiligen Aufklärungs- und Transparenzwillen“ Anfang 2010 zurück. Man habe damals „sehr kurzfristig“ und ungeprüft „zu diesem Zeitpunkt greifbare Informationen und Fakten unterschiedlicher Herkunft“ zusammengestellt und 2012 „offenbar unzureichend aktualisiert“.

„Offenbar“ ist geschmeichelt. Nachweislich enthielt die Broschüre weder 2010 noch 2012 die Informationen und Fakten, die Meisner, Schwaderlapp und Heße zu dieser Zeit kannten. Was sie mit ihrer Publikation unter dem Wappen des Erzbistums, mit Meisners Unterschrift und einem Heße-Interview über „Ehrlichkeit, Wachsamkeit und Schutz“ dann im Sinn gehabt haben mögen, bleibt ihr Geheimnis. Aktive Vertuschung kann es nicht gewesen sein. Sagt jedenfalls der Papst.

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