Auf der Flucht nach NRW„Es ist ungewöhnlich still hier, es fallen keine Bomben“

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Elisabeth Gruber holt ihre Familie in der Flüchtlingsunterkunft ab.

  • Noch vor einer guten Woche führten die Menschen in Girske, einem Dorf im Westen der Ukraine, ein normales Leben.
  • Dann kam der Krieg und auch die Familie von Tatjana Burmecha entschied sich zu fliehen.
  • 1600 Kilometer und einige Tage später sind sie in Nordrhein-Westfalen angekommen. Ihre Heimat aufgeben wollen sie trotzdem nicht.

Köln – Als der russische Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gab, war es tiefe Nacht. Das Dorf Girske in der Nähe der westukrainischen Großstadt Lviv lag im Schlaf und mit ihm auch die Familie von Tatjana Burmecha. Am nächsten Tag wollten die Menschen zur Arbeit gehen, sich um Häuser und Höfe kümmern. Die Kinder wollten zur Schule. Und dann ging niemand irgendwo hin. Das normale Leben, das die Menschen in Girske führten, schien plötzlich vorüber zu sein. Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag hatte alles auf den Kopf gestellt.

Diese Nacht ist nun eine Woche her. Eine Woche, die sich anfühlt wie eine Zeitenwende. Wie ein Keil hat sie sich hineingetrieben in das Leben und es geteilt in ein Zuvor und ein Danach, ein neue Leben, das jetzt beginnen muss. Tatjana Burmecha (41), ihre beiden Kinder Viktoria (12) und Sebastian (8) und ihre Mutter Anastasia Wirt (81) haben alles hinter sich gelassen. Sie sind 1600 Kilometer weit und tagelang vor dem Krieg in der Heimat geflohen und schließlich in Deutschland gelandet, erst in Köln, dann bei ihrer Nichte Elisabeth Gruber in Kleve. „Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, wie das ist, wenn Bomben auf die Heimat fallen“, übersetzt die 24-jährige Gruber für Tante und Großmutter. Sie kann nur sagen: „Es zerreißt mir das Herz.“

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Luhansk: Großeltern verabschieden sich am Bahnhof von ihrem Enkelkind.

Als Putin seine Truppen an den Grenzen der Ukraine sammelte, kroch die Angst in ihr kleines Städtchen im Westen der Ukraine. Wozu er fähig ist, habe er vor 20 Jahren in Tschetschenien gezeigt, als er die Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche bomben ließ. Habe er 2008 in Georgien demonstriert, als er das kaukasische Land binnen fünf Tagen besiegte. Und 2014, als er die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und den Osten der Ukraine in de facto autonome Regionen von der Ukraine abtrennte. „Wir wussten, Putin macht ernst, aber wir waren trotzdem schockiert, als es passierte“, erzählt Burmecha.

Alles zum Thema Henriette Reker

Das Leben war auch vor dem Angriff nicht einfach gewesen. Tatjana Burmecha arbeitete als Leihkraft in einer Fabrik im nahe gelegenen Polen. Wenn es gut lief, gab es dort für zwei bis drei Monate am Stück einen Job. Anschließend musste die Familie auf neue Arbeit warten. Burmecha ist geschieden und muss für die Familie allein aufkommen.

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Ukrainische Flüchtlinge an einem Grenzübergang zu Moldawien.

Mit dem Angriff wurde dann alles anders. In Girske war es zwar ruhiger als in den umkämpften Städten Charkiv, Mariupol, Cherson oder Kiew. Es fielen keine Bomben auf die Wohnhäuser, es explodierten keine Raketen auf den Plätzen. Aber die Straßen waren leer gefegt, ab 21 Uhr galt eine Ausgangssperre. Abends musste das Licht gelöscht werden, um russischen Flugzeugen kein Ziel zu bieten. „Es war, als wäre Girske eine Geisterstadt, als wäre niemand da“, sagt Burmecha. Männer hätten Patrouillen gebildet, um mögliche russische Saboteure abzufangen. „Wir hatten gehört, dass Separatisten in zivil herumlaufen und Anschläge vorbereiteten würden.“

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Menschen seien aus dem nahe gelegenen Lviv in die Dörfer geströmt, weil sich die Menschen dort sicherer wähnten als in der Großstadt. Lebensmittel wurden knapp, vieles war ganz ausverkauft. Burmecha erzählt von Medikamenten, die nicht mehr besorgt werden konnten und durch die Decke schießenden Preisen. Brot, das vor wenigen Tagen noch für 50 Cent zu haben war, kostete plötzlich dreimal so viel. Und immer wieder das Heulen der Alarmsirenen. Menschen flohen in Keller und nahmen oft nicht mehr mit als die Hoffnung, wenigstens diesen Tag noch zu überleben.

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Ukrainische Mütter am Samstag in Medyka an der Grenze zu Polen

Nach drei Tagen in Angst reifte in der Familie der Entschluss, das Land zu verlassen. Keiner habe warten wollen, bis die Russen auch in die Westukraine kommen. Bis Bomben auch in Girske einschlagen. Sie wollten fliehen, auch ohne ihre Männer. Denn – auch das gehört zur Grausamkeit dieses Krieges – gemäß einer Generalmobilmachung der Ukraine wurde allen wehrpflichtigen Männern untersagt, das Land zu verlassen. Manche haben sich Milizen angeschlossen, manche kämpfen beim regulären Militär. So oder so: „Von den Männern hört man nichts“, sagt Burmecha. Die Familie zählt ein gutes Dutzend Onkel und Cousins. Sie alle sind derzeit nicht auffindbar. Wo sie sind? Ob sie noch am Leben sind? All das ist derzeit ungewiss.

Burmecha kaufte schließlich im Internet Tickets für eine Busfahrt nach Polen. Ein Bekannter brachte sie zum Busterminal in Lviv. Dort, so sagt sie, spielten sich chaotische Szenen ab. Menschen drängten sich auf dem Bahnhof, versuchten sich in die Busse zu quetschen. Verzweifelte Mütter, die kein Geld für die mittlerweile teuren Fahrkarten hatten, wollten mit ihren Kindern dennoch irgendwie dem Krieg entkommen. Burmecha und ihrer Familie gelang es in all dem Chaos, sich in einen Bus zu retten, den die Ukraine eigens für Flüchtlinge bereitgestellt hat.

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Ein zerstörtes Auto in Mariupol.

Zwei Stunden dauerte die Fahrt, dann erreichten sie die polnische Grenze. Doch das Chaos nahm kein Ende. Dort warteten seit Tagen zehntausende Menschen, die nach Polen und weiter in die EU fahren wollten. Völlig überlastete Grenzbehörden, Computerausfälle. Die Ukrainer hatten zudem offenbar Mühe, Männer, die sich in Sicherheit bringen wollten, zurückzuweisen. Die Registrierung der Menschen zog sich in die Länge. 43 Flüchtlinge, die der deutsch-ukrainische Verein Blau-Gelbes Kreuz am Donnerstag nach Köln gebracht hatte, mussten drei Tage lang an der Grenze ausharren.

Manche Flüchtlinge harren drei Tage an der Grenze aus

Als Tatjana Burmecha und ihre Familie an die Grenze kamen, hatten sich lange Schlangen gebildet. „Viele Leute kamen zu Fuß mit Taschen in der Hand, in denen sie alles gesammelt hatten, was ihnen geblieben war“, erzählt Burmecha. Eine Familie mit Kindern erzählte, sie habe seit Tagen nichts mehr gegessen und getrunken. Andere Menschen auf der Flucht teilten das wenige, was sie hatten. „Es ist der Wahnsinn, wie man sich untereinander geholfen hat.“ Letztlich hatten die Burmechas Glück. Vergleichsweise zügig habe man sie nach Polen durchgewunken.

Es folgte eine Busfahrt quer durch Polen und Deutschland. Zehn Stunden. Dann endlich die Ankunft in Köln-Roggendorf. Im Flüchtlingswohnheim an der Sinnersdorfer Straße hat die Stadt Köln Appartments für die Geflüchteten bereitgestellt. Wer hier ankommt, erhält etwas zu essen und zu trinken.

„Es ist ungewöhnlich still hier”

Man trifft hier auch auf Menschen wie Shamim Ahamed, einem Geschäftsmann mit Wurzeln in Bangladesh, der seit 25 Jahren in der Ukraine lebt. Sein Neffe Mohsin Reja ist nach Roggendorf gekommen, um ihn erstmal in die Arme zu nehmen und dann mit nach Hause in seine Wohnung in Köln, wo er erstmal bleiben kann. Oder Anastasia Tischenka, die mit Großmutter Ekaterina und Tochter Sofia 2000 Kilometer aus Kiew mit dem Auto nach Köln gefahren ist. Die Vorsitzende des deutsch-ukrainischen Vereins Blau-Gelbes Kreuz, Linda Mai, die den Bustransport aus der Ukraine nach Köln mit den 43 Menschen organisiert hat, berichtet von einen Mädchen, das zu ihr sagte: „Es ist ungewöhnlich still hier, es heulen keine Sirenen es fallen keine Bomben.“

Dramatischer Appell

Bei einem Besuch der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und NRW-Integrationsminister Joachim Stamp im Logistikzentrum des Blau-Gelben Kreuzes wendet sich Mai an die Politik. Russland, sagte sie, versuche die freiheitliche Demokratie in der Ukraine auszulöschen. Putin werde nicht aufhören, bis die Ukraine besiegt sei. „Sie werden weitermachen, bis jeder Ukrainer tot ist. Dann wird er andere Länder mit Krieg überziehen.“

Auf Tatjana Burmecha und ihre Familie wartet in Roggendorf die Familie: Ihre Nichte holt Tante, Großmutter und die Kinder ab und fährt mit ihnen in ihr Zuhause an den Niederrhein. „Wir haben erst am Mittwochabend erfahren, dass sie losgefahren waren. Und erst am Donnerstagmorgen war klar, dass sie hier in Köln ankommen“, sagte Gruber. Die Familie ist nun erschöpft, aber glücklich. Besonders die Kinder hätten die Flucht zumindest erstmal erstaunlich gut verarbeitet. Dass sie alle auf dem Weg nach Kleve noch in einen zweistündigen Stau gerieten, ertrugen sie mit Gelassenheit, wie tags darauf am Telefon zu erfahren war. In Kleve waren schon die ehemaligen Kinderzimmer in der Wohnung von Grubers Mutter vorbereitet. Dort ist die Familie fürs erste eingezogen.

rauch über kiew

Rauch über Kiew nach russischen Angriffen auf die ukrainische Hauptstadt.

Sie sind froh hier zu sein. Und doch: Die Ukraine verlassen, das wollten sie nie. Tatjana Burmecha würde lieber heute als morgen zurückkehren, richtet sich aber auf einen langen Aufenthalt in Nordrhein-Westfalen ein. „Mut macht mir, dass die Ukraine so gut dagegenhält. Niemand hatte damit gerechnet“, sagt sie. Dennoch ist sie pessimistisch. Die militärische Hilfe des Westens wäre das Einzige, was Russland stoppen könnte. Doch sie erwartet nicht, dass die Nato eingreift. Sie ahnt: „Keiner wird der Ukraine helfen und dabei den Dritten Weltkrieg riskieren.“Putin, so glaubt sie, werde jedenfalls nicht aufgeben. „Er will die Ukraine schlucken. Wir werden es nicht schaffen.“

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