„Wenn es jemand schafft, dann wir“Wie das Kölner SEK mit Geiselnehmern verhandelt

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Anonymität ist für die Spezialeinsatzkräfte wichtig. Ihre Gesichter können daher nicht gezeigt werden.

Köln – Um kurz nach neun Uhr an jenem Freitag im April 2013 dringt der Geiselnehmer in die Kindertagesstätte in Chorweiler ein. Rechtzeitig gelingt den Erzieherinnen mit den Jungen und Mädchen die Flucht. Der Plan des Täters (47), Kinder in seine Gewalt zu bringen, ist gescheitert. Stattdessen drängt er nun den Kita-Leiter (51) in dessen Büro. Er bedroht ihn mit einer Schere, fordert mehrere hunderttausend Euro Lösegeld, ein Fluchtfahrzeug und freien Abzug.

Nach einer Dreiviertelstunde, um kurz vor zehn, gelingt es der Verhandlungsgruppe der Kölner Polizei, Kontakt zu dem Geiselnehmer aufzunehmen – von einem Telefon in einem Bürogebäude der Spezialeinheiten. Der Täter am anderen Ende der Leitung klingt aufgebracht, erinnert sich Annette Schneider, eine der Verhandlerinnen, heute an jenen Moment. „Unsere Hauptaufgabe war es wie immer bei solchen Einsätzen, ihn, aber auch das Opfer erst einmal zu beruhigen und zu stabilisieren.“

Zugriff oder Verhandlung?

Ein Mittag im Sommer 2021 auf einem Gelände der Polizei am Kölner Stadtrand. Hier sind neben Hundertschaften und der Hundestaffel auch die Spezialeinheiten stationiert, zu denen neben SEK und MEK die Verhandlungsgruppe gehört. Sie wird gebraucht, wenn Geiselnehmer, Erpresser oder Suizidenten mündlich zur Aufgabe bewegt werden sollen. Mit hauptamtlichen Mitarbeitern ist die Gruppe entstanden aus dem Debakel von Gladbeck 1988, heute ist sie für den Regierungsbezirk von Aachen bis Gummersbach und als Bereitschaft für ganz NRW zuständig und zu einer streng verschlossenen Einheit geworden, aus der nichts nach außen dringen soll. Zum ersten Mal aber bekommt die Presse Zugang zu ihren Räumen – und zum ersten Mal berichten Beamte der Verhandlungsgruppe Journalisten ausführlich von ihrer Arbeit. Vertraulichkeit und Anonymität waren die Bedingungen für das Treffen. Kein Tonband, keine Fotos, nur wenige Notizen. Alle Namen sind geändert und – das ist ungewöhnlich und eine absolute Ausnahme – jedes Wort von der Polizei freigegeben.

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Jan Sievers, Leiter der Spezialeinheiten, ist sowohl den Verhandlern, als auch dem SEK vorgesetzt. Als Einsatzleiter muss er oft die Abwägung treffen: Sind die Chancen größer mit Kommunikation oder mit Gewalt? „Zum Einsatzort kommen immer beide Einheiten: Das SEK, also Team ‚Zugriff‘ und das Team ‚Verhandlung‘“, sagt er. Beide Teams versorgen den Polizeiführer, der den Gesamteinsatz leitet, mit Informationen und schätzen Erfolgschancen ein. „Alle haben das gleiche Ziel – die Lage mit möglichst wenig Opfern zu lösen – aber die Wege dahin sind unterschiedlich“, sagt Sievers. In seiner Truppe seien beide Strömungen gleich stark. Sievers drückt den Rollo-Schalter in der Wand.

Die Leinwände vor den Fenstern fahren herunter, es wird dunkel im Kommandoraum, wo bei größeren Einsätzen die Fäden zusammenlaufen. „Auf die Leinwände projizieren wir zum Beispiel Grundrisse von Gebäuden oder das Live-Programm von Nachrichtensendern, damit alle auf dem gleichen Stand sind“, sagt er. Wenn jeder einzelne der blauen Stühle besetzt sei, könne es schnell warm und stickig werden. Die Frage nach Zugriff oder Verhandlung wird hier permanent neu entschieden. „Niemandem ist doch geholfen, wenn wir einen Geiselnehmer vor den Augen von Kindern direkt erschießen, ohne vorher einen anderen Weg gesucht zu haben“, sagt Sievers mit Blick auf die Geiselnahme in Chorweiler.

Sechsstündiger Nervenkrimi am Appellhofplatz

Die Lage in der Kita zieht sich lange hin an jenem Apriltag 2013. Der Geiselnehmer versteht nicht gut Deutsch, das erschwert die Gespräche zusätzlich. Immer aufs Neue wiederholt er seine Forderungen. Die Verhandler der Polizei versuchen ihn zu überzeugen, dass Aufgeben seine beste Option ist – auch weil er dann vor Gericht auf eine mildere Strafe hoffen kann. Um seine Schulden in den Griff zu kriegen, gebe es professionelle Hilfe, erklären ihm die Polizisten. Sie versuchen, bei ihm wenigstens „ein Fünkchen Einsicht“ zu erreichen, dass das, was er da gerade tut, seine Situation nur verschlechtert. Fast 30-mal telefonieren sie im Laufe des Tages mit ihm. „Aber wir hatten das Gefühl: Was wir ihm sagen, kommt bei ihm nicht an“, erinnert sich Annette Schneider. Gegen 19 Uhr spitzt sich die Lage dramatisch zu.

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Ein SEK-Beamter am 5. April 2013 vor der Kita in Chorweiler, in der ein Mann den Leiter der Einrichtung in seine Gewalt brachte.

Manchmal – das kennen die Verhandler zur Genüge – werden Worte zu den schärfsten Waffen. Am Vormittag des 30. November 2020 war das so am Appellhofplatz. Ein psychisch kranker Mann fühlte sich verfolgt und abgehört, kletterte auf einen Baukran und drohte, sich herunterzustürzen. Annette Schneider und zwei Kollegen gelang es nach einem sechsstündigen Nervenkrimi, ihn abzubringen von seinem Wunsch zu sterben. „Wir haben draußen stundenlang gefroren. Aber es war gut, dass wir vor Ort waren. So hatten wir Blickkontakt mit ihm“, erinnert sich Mayer und spricht von einem „Bedürfnisdefizit“ bei dem Mann. „Er fühlte sich extrem unsicher, forderte einen abhörsicheren Raum“, sagt Schneider. Den ganzen Nachmittag sprachen sie über sein Leben und seine Welt, wie er da reinkam und wo er wieder rauskommt. Privates, Politisches. „Nach ein paar Stunden waren wir ihm so nah wie seine nächsten Verwandten nicht“, sagt Mayer, die ihn in den Arm nahm, nachdem er vom Kran geklettert war. Unüblich sei das, „aber das war ein totaler Glücksboost für mich.“

Gelernte Empathie

Nicht immer aber können sie die Zielperson überzeugen. „Es gibt Menschen, zu denen lassen sich einfacher Zugänge schaffen und zu manchen eben schwieriger“, sagt Sievers. Gefährlich wird es, wenn die Lage lange Zeit unverändert bleibt. „Manchmal drehen wir uns ewig im Kreis und kommen kein Stück weiter“, sagt Till Pfeiffer. Da helfe kein Ehepartner, kein Sohn, keine Tochter, die da gut zuredet. „Es gibt Situationen, die nicht besonders komplex sind, in denen aber doch irgendetwas fehlt. Wenn wir irgendein Schräubchen nicht sehen, irgendein Gefühl nicht erkennen. Und dann wird es ganz schwierig, jemanden herunterzubeten“, sagt Pfeiffer, den sie intern „Mister Speaker“ nennen. Er liebt es, in „extremen Spitzen“ zu arbeiten, sagt er. Nachts aus dem Bett geklingelt zu werden, zu spüren, wie das Adrenalin in den Körper schießt, und sich dann „ins Palaver“ zu stürzen, wie er sagt. Und zu wissen, dass man „es eigentlich nicht vergeigen darf, aber es eben manchmal doch passiert.“ Pfeiffer erzählt, wie er früher Kindesmissbrauch bekämpft hat. Im Gespräch mit den Opfern habe er gemerkt, wie empathisch er sein könne.

Der Geiselnehmer von Chorweiler ist für Argumente nicht zugänglich. Neun Stunden hat er den Kita-Leiter nun schon in seiner Gewalt, hat ihm mit der Schere blutende Verletzungen zugefügt. Die Verhandler bekommen das am Telefon mit. Am Abend droht die Situation zu eskalieren. Die Polizisten hören Schmerzensschreie des Opfers. „Es kristallisierte sich heraus, dass das Opfer in Lebensgefahr schweben könnte, und der Täter weigerte sich, Sanitäter hereinzulassen“, schildert Annette Schneider. Dann folgt der Zugriff. Ein SEK dringt in das Büro ein und überwältigt den Täter. Als Niederlage empfinden die Verhandler ein solches Ende ausdrücklich nicht, sagen sie. „Für uns ist entscheidend, die Lage stabil zu halten so lange es geht. Es ist auch ein Erfolg, wenn das Opfer am Ende mit unserer Hilfe befreit wird“, sagt Schneider. Vor Gericht wird der Geiselnehmer zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Verhandlungen über Whatsapp

Einsätze wie in Chorweiler oder Geiselnahmen in Banken, Bussen und Flugzeugen werden immer seltener, sagt Annette Schneider. Die Sicherungssysteme werden immer besser. Und Kriminelle zieht es zunehmend ins Internet. Und wenn es doch passiert, würden inzwischen gerne Bitcoins gefordert und die Verhandlungen über Whatsapp geführt, sagt Schneider. In der Verhandlungsgruppe arbeiten Männer wie Frauen gleichermaßen. Es heißt, Frauen sollen deeskalierender wirken. Hier glauben sie eher, dass einfach mehr Frauen die Aufgabe attraktiv finden als Männer. Ein Jahr Zusatzausbildung und einen Aufnahmetest mit Rollenspielen und Sprechübungen müssen sie bestehen, außerdem permanente Fortbildungen belegen. Viele scheitern daran, mehr Bewerber können sie also gut gebrauchen.

Allen in der Verhandlungsgruppe gleichermaßen ist ein positives Menschenbild gemein, das viel Einfühlungsvermögen verlangt im Umgang etwa mit Terroristen, psychisch Kranken und anderen. „Niemand ist doch per se ein schlechter Mensch. Auch ein Islamist wird ja nicht als Teufel geboren, sondern hat einfach irgendwann in seinem Leben das Pech gehabt, sich nicht mehr dagegen wehren zu können, dass ihm jemand sein Gehirn wäscht“, sagt Pfeiffer. „Wir können uns einfach nicht leisten, den Menschen feindselig gegenüberzustehen. Wir müssen versuchen, uns in die Gedankenwelt der Täter hineinzuversetzen, ihre Konflikte zu verstehen, um an sie heranzukommen“, sagt Pfeiffer. „Es gibt immer einen friedlichen Weg, auch wenn die Lage noch so beschissen ist. Trotzdem sind wir deshalb noch lange keine Therapeuten. Wir sind immer noch Polizisten mit dem Ziel, die Lage zu beenden. Aber wenn es jemand auf dem kommunikativen Weg schafft, dann wir.“ So wie neulich, als jemand stundenlang drohte, sich von einer Brücke zu stürzen und die Verhandlungsgruppe in einem Feuerwehrkorb direkt daneben stand. Nach langen Gesprächen entschloss sich der Mann, von der Brücke herunterzukommen.

Am Ende, das betont das Verhandlungsteam, kommt meistens mehr zurück als man investiert. Der junge Mann zum Beispiel, der sich dann doch nicht umbringt und sich bedankt, dass ihn jemand vom Weiterleben überzeugt hat. Oder die Apothekerin aus dem Hauptbahnhof, die noch zweieinhalb Jahre nach ihrer Geiselnahme 2018 Kontakt zur Spezialeinheit hat. „Das macht uns unglaublich stolz“ sagt Sievers, lächelt ein bisschen und fährt die Leinwände hoch. Es wird wieder hell in der Kommandozentrale. Genug geredet für heute.

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