Ein Tag im Raum der StilleBringt mich nicht aus der Ruhe!

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Einer unserer Redakteure irgendwo zwischen Meditation und Mittagsschlaf.

Einer unserer Redakteure irgendwo zwischen Meditation und Mittagsschlaf.

Köln – Nach sechs Stunden hat sich die Entspannung heimlich aus der Tür geschlichen und mich ausgeleert zurückgelassen. Nervös tippe ich mit den Füßen auf den Boden. Was nun? Immer wieder gehe ich auf und ab, schätze durch Schritte Länge der Wände. Dann denke ich und denke weiter und komme doch nie zu einem sinnvollen Schluss. Ich tagträume mich auf die Domplatte, in ein startendes Flugzeug, auf ein Scooter-Konzert. Egal wo, Hauptsache laut. Es klappt nicht. Ich fange an zu zittern. Der „Raum der Stille“ ist nicht die erhoffte „Oase der Ruhe“. Er ist eine Fata Morgana.

Der Tag davor: „Oh Gott, das wollen Sie nicht wirklich machen?“, raunt die freundliche und bis dahin eigentlich sehr gelassene Dame der Universitätspressestelle aufgeregt durch den Hörer meines Telefons. „Mein Beileid. Da wird man ja verrückt.“ Und ich bekomme es mit der Angst zu tun. Ob sie mit „man“ eigentlich „Sie“ sagen will? Und ob sich ihre Behauptung auf bereits miterlebte Fälle stützt? Verrückt werden, das war eigentlich nicht meine Intention. Ganz im Gegenteil. In meinem Kopf klang die Idee, einen Tag, acht Stunden, im neuen Raum der Stille der Universität zu Köln zu verbringen, eigentlich mehr nach Besinnung. Mal Abstand vom ständigen Krawall der Stadt.

8.28 Uhr: Eine Mischung aus Alarmanlage und Meerschweinquieken reißt mich aus dem Schlaf, die nervtötendste Melodie überhaupt. Mein Kopf tut weh, als ich mich verkrampft Richtung Badezimmer schleppe. Ich fühle mich, als hätte ich nur wenige Minuten geschlafen, was mich wütend macht, weil es wahrscheinlich auch wahr ist. Weil mein Nachbar aus dem Stockwerk über mir, den ich noch nie gesehen habe, mir aber vorstelle wie Jack Nicholson in der Rolle des neurotischen Melvin Udall in „Besser geht’s nicht“, ja weil der Nachbar aus dem Stockwerk über mir wieder pünktlich um 1 Uhr nachts auf den Boden getrampelt hat, als trainiere er für eine Stepptanzvorstellung in Wanderschuhen. Nie hat man seine Ruhe, denke ich, als ich in die Dusche steige. Dann schaltet sich das Radio automatisch an. Stau auf der A4.

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9.25 Uhr: Nach einem Frühstück, das auf mich nach der besorgten Ansage der Unipressesprecherin vom Vortag auch ein wenig wie eine Henkersmahlzeit meines eigenen Geistes gewirkt hatte, haste ich zur Tram. Vorbei an einem brummenden AWB-Fahrzeug und vibrierenden Presslufthämmern, direkt zu einem der größten Lautsprecher Kölns, dem Zülpicher Platz. Um die Haltestelle der Linie 9 drängen sich mehr Menschen, als in eine KVB-Bahn passen. Ich verpasse die erste, bin genervt und drängle mich zehn Minuten später durch knarzende Winterjacken gerade noch so in einen völlig überfüllten Waggon, während ein unheilvolles Piepen ankündigt, dass die Türen gleich schließen, die Bahn gleich losrattern wird, was allerdings keinen der Fahrgäste zu interessieren scheint. „Wenn Se hier festwachsen wollen, hoffe ich, dass einer von Ihnen Dünger dabei hat. Ansonsten einmal Türen freimachen“, bahnfahrert es von der Decke. Neben mir brüllt ein gedrungener, rot angelaufener Mann wie ein lebendiges Ausrufezeichen an seinem Handy vorbei in mein Ohr: „Wenn Du einkaufen gehst, bloß nicht die Teewurst vergessen!“ Ist notiert.

9.48 Uhr: „Und das ist abgesprochen?“, fragt der Universitätshausmeister verdutzt aus seinem Glaskasten heraus. „Ja“, sage ich. „Hm. Und jetzt den ganzen Tag oder wie?“ „Ja“, sage ich. Eigentlich und offiziell sind nur 90 Minuten am Stück im Ruheraum erlaubt, das Handy sei abzugeben, hatte mir die Sprecherin erklärt. „Und warum machen Sie das?“ Meine Stimmbänder klingen schon zum dritten „Ja“ an, ich halte im letzten Moment aber doch nur mit einem zögerlichen Schulterzucken dagegen. „Ich dachte, das wäre eine gute Idee, hat man ja sonst nie seine Ruhe“, lege ich nach. Er lacht. „Na, da hätten Sie auch einfach einen Tag in Ihrer Wohnung sitzen können, oder?“ Wortlos nehme ich den Schlüssel entgegen. Dieser Mann muss ein guter Nachbar sein.

9.51 Uhr: Der Weg zum Raum der Stille führt durch kahle Flure mit PVC-Böden, so hässlich, so künstlich, dass man sie als trügerische Warnung verstehen muss. Das Flackern der unbehaglichen Leuchtstofflampen als letztes Momentum der Abschreckung in der Gesellschaft der ewig Rastlosen. Hier kann es einem gar nicht besser gehen, denke ich und laufe weiter, vorbei an lieblos standardisiert eingerichteten Büros. Bin ich vielleicht jetzt schon verrückt? Eine Treppe später ist dann da eine Glastür ohne Schild, nur ein DIN-A4-Blatt wurde provisorisch an die Wand daneben geklebt. „Nutzungsregeln für den Raum der Stille“. Ich lese, nicke in mich hinein und drücke den Knopf an der Wand. Offen. Wofür war der Schlüssel? Und mein Handy musste ich auch nicht abgeben.

10.12 Uhr: Wenn irgendwann mal jemand einen Superlativ von „weiß“ erfindet, dann sicher, weil er einige seiner Stunden hier verbracht hat. Die vier Wände: weiß. Die Tür: weiß. Die Decke: weiß. Der Lichtschalter: weiß. Die Heizung: weiß. Nur der Boden: nicht weiß. Sondern Laminat aus Buchenholz, über den sich, so kurz nach der Eröffnung, bereits graue Schlieren ziehen. Was die Leute hier drin wohl machen, wenn sie alleine sind? Rollschuhfahren? Tai Chi? Stepptanz in Wanderschuhen? Und ich sitze hier seit 20 Minuten auf einem roten Klappstuhl aus dem Kabuff nebenan. Es gibt auch Yoga-Matten und Sitzsäcke in der gleichen Farbe. Wie faul von mir, denke ich. 35 Quadratmeter nur für mich und ich sitze. Aus Trotz schlage ich ein Rad. Prüfender Blick auf den Boden: keine Schlieren.

10.20 Uhr: Die Stille ist kalt, darum habe ich die Heizung angestellt. Es brummt gleichmäßig. Ich begutachte das Muster an den Wänden: Löcher, zwischen denen zackige Linien verlaufen, willkürlich wie Blitze. Und was soll das nun? Bevor mir eine bedeutungsschwere Metapher für das Leben und den Lärm des Seins einfällt, drohe ich einzunicken, halte aber mit aller Mühe die Augen doch noch offen. § 3, „Essen und Trinken, Schlafen sowie der Gebrauch von elektronischen Gegenständen ist untersagt“.

11.36 Uhr: Ein junger Mann in Kapuzenpulli und Sneakers kommt herein. Als er mich in der Ecke entdeckt, schaut er skeptisch. Hat wohl nicht mit Gesellschaft gerechnet. Wir nicken uns verlegen zu, ohne aber etwas zu sagen, weil man das hier nicht darf, zumindest fühlt es sich so an. Dann rollt er einen Teppich aus und beginnt zu beten. Ich bin verblüfft, noch nie in meinem Leben habe ich einen Muslim beten sehen. Es ist überraschend unspektakulär. Und doch kann ich nicht wegsehen, fühle mich wie ein Gaffer, gierig nach Bildern, die der Film meines Alltags nicht abspielt. Nach fünf Minuten packt er seine Sachen zusammen und verlässt wortlos den Raum. Ich schäme mich ein bisschen.

12.48 Uhr: Und dann ist da auf einmal nichts. Ich habe die Heizung ausgestellt, die Anfangskühle ist fort, ich bin warm geworden. Wie ein letzter langer Abschiedsgruß verstummt das Surren der Rohre. Ich höre noch einmal genau hin. Nein, da ist nichts. Nach fast drei Stunden ist da zum ersten Mal gar kein Ton mehr, kein Geräusch. Ich lehne mich an die Wand, dann höre ich meinen Atem und meinen Herzschlag. Mein Gott, wie lange habe ich meinen Herzschlag nicht mehr gehört? Ich muss lachen. Was für ein Gefühl. Es ist, als träfe ich einen alten Freund wieder. Einen, den ich ganz und gar vergessen hatte, und bei dem mir erst auffällt, wie sehr ich ihn vermisst habe, als er wieder vor mir steht. Hallo Stille. Schön, dich nicht zu hören. Wo warst du nur so lange?

13.11 Uhr: Es ist wie Urlaub. Nur besser. Klar. Der Mensch ist Krach und Krach ist menschlich, denke ich. Alles, was wir tun, erzeugt immer überall ein Geräusch. In einer Stadt, dem menschlichsten Ort überhaupt, wo jeder Fleck Natur geplant ist wie eine künstliche Insel im Meer von Personen, da schlagen die Schallwellen hoch, das Grundrauschen ebbt nie ab. Köln ist, habe ich vorher noch gelesen, laut einer Studie der Geers-Stiftung in der Top-5 der lautesten Großstädte Deutschlands – noch vor Berlin. Eine Bekannte von mir litt an Depressionen vor nicht allzu langer Zeit. Der Arzt diagnostizierte: Stress durch zu viel Lärm. Ob er einen Raum wie diesen als Therapie in Erwägung gezogen hat?

14.08 Uhr: Seit anderthalb Stunden sitze ich nun so da, und es ist immer noch großartig. Ich habe über eine Idee für einen Text nachgedacht, über Musik und darüber, was ich meinem Vater zum Geburtstag schenken könnte. Vielleicht wird es eine selbstgestaltete Tasse. Ich habe versucht zu meditieren und gelesen. Nun hat sich eine kurzhaarige Frau zu mir gesellt, wir haben kurz gesprochen, weil sie wissen wollte, woher ich den Stuhl hätte. Ich zeigte auf das Kabuff und nun existieren wir so nebeneinander, schauen uns nicht an, reden nicht mehr, es ist angenehm. Zwei Einsiedler in der Wüste, sie hat ihren Platz, ich habe meinen.

14.17 Uhr: Gekicher beendet meinen Seelenfrieden. Zwei Studentinnen kommen durch die Tür gestolpert. Bestimmt Lehramt, denke ich. Zumindest sehen sie so aus. Brille. Ein Zopf, um trotz noch kindlicher Gesichtszüge streng zu wirken. Blusen, die eine in Pink, die andere blau, aber beide die obersten zwei Knöpfe geöffnet. Mit völliger Yoga-Matten-Ignoranz setzen sie sich einfach so auf den Boden, fangen an zu plaudern, über ihr Studium. Germanistik. Auf Lehramt. Hab ich’s doch gewusst. Ich möchte sie zu etwas Ruhe ermahnen, aber dann würde ich mich ihnen zugehörig fühlen. Der Störenfried der Störenfriede. Hilflos suche ich Blickkontakt mit Einsiedlerin zwei, die aber einsiedlert unbeeindruckt vor sich hin. Pinke Bluse zückt währenddessen schamlos ihre Kopfhörer und beginnt Musik zu hören. Das darf sie nicht, schreit es in mir. Das. Darf. Sie. Nicht. Was für eine absurde Idee im Raum der Stille Musik zu hören. Dann kommen drei Männer herein, setzen sich zu ihnen, zeigen sich Handyvideos. Die Wüste, meine Wüste, wird zum überlaufenden Touri-Strand, Playa de Sin Silencio. Je mehr man Stille teilt, desto schneller löst sie sich auf, denke ich. Ich gehe raus, an die frische Luft. Irgendwohin, wo ich meine Ruhe habe.

14.31 Uhr: Bei meiner Wiederkehr nach einem Spaziergang durch die Uniflure ist niemand mehr im Raum. Schön, denke ich erst. Aber: War es schon die ganze Zeit so still?

15.40 Uhr: 7040. Mir ist entsetzlich langweilig. Ich habe die Löcher an der Wand gezählt, dann habe ich aufgehört, dann habe ich ihre Anzahl überschlagen. Meine Gedanken sind ausgedacht. Meine Zeitung habe ich durch. Wie ein aufgedrehtes Kind, das kein Spielzeug hat, suche ich nach einer Beschäftigung, aber es scheint keine mehr zu geben. Summend drehe ich die Heizung wieder auf. Ich lausche dem Brummen und stelle mir vor, es wäre ein AWB-Fahrzeug.

17.35 Uhr: Es reicht, ich kann nicht mehr. Das Urlaubsgefühl hat sich in den vergangenen, letzten Stunden in erschöpfende Einsamkeit gewandelt. Niemand war mehr da. Nur ich. Und auf einmal fühlte ich mich wie ein freiwilliger Kaspar Hauser. Vielleicht wohnen wir auch in der Stadt, weil wir den Krach brauchen, denke ich, weil er immer da ist und einen nicht allein mit sich selbst lässt, wenn man nicht will. Weil Stille großartig ist, wenn man sich konzentrieren muss. Aber betäubend, wenn man sich ihr hingibt. Vielleicht ist mir auch durch mein ganzes Leben in der Stadt die Stille abhanden gekommen und nun ist sie ein Fremder für mich, von dem ich dachte, sein Gesicht schon einmal irgendwo gesehen zu haben.

Ein bisschen noch wie in Trance bringe ich den Schlüssel zurück zum Hausmeister, trete an die kalte Luft, direkt auf den Vorplatz des Uni-Hauptgebäudes. Ein gut gelaunter Vollbart-Träger in brauner Cordhose und Winterjacke kommt auf mich zu. „Hey, du siehst aus, als würdest du noch einen sozialen Job für das nächste Jahr gebrauchen können?“, raunt er enthusiastisch. Ich schaue mich erschrocken um. Meint der mich? Als ich antworten will, jagt ein Polizeiauto mit Blaulicht an uns vorbei, das Martinshorn übertönt meine Stimme. „Hier ist immer ganz schön viel Lärm“, sagt er. „Nicht immer“, sage ich.

Der Raum der Stille

Der „Raum der Stille“ wurde am 20. November im Hauptgebäude der Universität zu Köln eröffnet und dient Mitgliedern der Hochschule als individueller Rückzugsort. Alle stillen Aktivitäten sind erlaubt – vom Gebet bis zur Yoga-Übung. Besucher dürfen sich allerdings nicht länger als 90 Minuten im Raum aufhalten. Einen Zugangsschlüssel gibt es beim Hausmeister.

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